Von Kai Rebmann
Den Kirchen in Deutschland laufen die Mitglieder in Scharen davon, im Jahr 2021 erreichte die Zahl der Austritte einen neuen Höchstwert. Die 359.000 Austritte aus der katholischen Kirche dürften zum wesentlichen Teil mit den zahlreichen Missbrauchsskandalen sowie dem Umgang der Kirche damit in Verbindung stehen. Doch auch der evangelischen Kirche (EKD) kehrten im vergangenen Jahr 280.000 Menschen den Rücken. Damit gehörten in Deutschland zum Jahreswechsel erstmals weniger als die Hälfte der Bevölkerung einer katholischen oder evangelischen Konfession an. Das Sozialwissenschaftliche Institut der evangelischen Kirche hat unter der Leitung von Petra-Angela Ahrens eine Studie zu den Ursachen der zahlreichen Austritte durchgeführt. Ergebnis: Den einen Grund gebe es nicht, stattdessen sei es in den vergangenen Jahren zu einer immer weiter fortschreitenden Entfremdung zwischen der EKD und ihren Mitgliedern gekommen.
Und tatsächlich hat die EKD ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Mit der Trauung homosexueller Paare, dem Segeln von maßgeblich durch Gelder der Kirche finanzierten Seenotrettungsschiffen (Sea Watch 4) unter der Flagge der Antifa oder der Verharmlosung und Gemeinmachung mit Genderideologie versucht die EKD, sich beim Mainstream anzubiedern und nimmt dabei billigend in Kauf, ihre seit Jahrzehnten treue Anhängerschaft vor den Kopf zu stoßen. Nun musste die evangelische Kirche St. Severin in Keitum auf Sylt als Kulisse für die hochumstrittene Prunk-Hochzeit von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und der Journalistin Franca Lehfeldt herhalten.
Sowohl Braut als auch Bräutigam sind schon vor langer Zeit aus Überzeugung aus der Kirche ausgetreten. Gothart Magaard, Bischof von Schleswig und Holstein, sagte dazu das, was ein Mann in diesem Amt eben sagen muss: „Es ist etwas Wunderbares, wenn sich zwei Menschen den Segen Gottes zusprechen lassen wollen.“ Als Redner trat während der Lindner-Hochzeit aber nicht nur die Pfarrerin der lokalen Kirchengemeinde auf, sondern auch Peter Sloterdijk. Der Philosoph hatte das Christentum erst vor wenigen Wochen noch als „gescheitertes Projekt“ bezeichnet. Diese Ansicht sei ihm im Namen der Meinungsfreiheit natürlich herzlich gegönnt, aber ob die Kirche so jemandem dann eine Bühne geben muss, ist eine andere Frage.
Deutliche Kritik an Lindner-Hochzeit aus den eigenen Reihen
Während sich die lokalen Vertreter der Nordkirche mit Floskeln um Schadensbegrenzung bemühten, scheuten sich andere nicht davor, die offensichtlichen Widersprüche im Zusammenhang mit der Lindner-Hochzeit in einem Gotteshaus auszusprechen. Der evangelische Ethikprofessor Mathias Wirth sprach im Kölner Stadt-Anzeiger von einer „wenig sozial- und moralsensitiven Trauung“ und spielte dabei auf den jüngsten Vorschlag des Bundesfinanzministers an, Hartz-IV-Empfängern die Leistungen zu kürzen.
Noch deutlicher wurde Margot Käßmann. In ihrer BamS-Kolumne fragte die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende, weshalb zwei Menschen eine kirchliche Trauung wünschen, die bewusst aus der Kirche ausgetreten sind und öffentlich erklärt haben, sich nicht als Christen zu verstehen. Es sei also ganz offensichtlich nicht um christliche Inhalte gegangen, sondern nur um eine Kulisse. Die Theologin warnte die Kirche davor, sich für solche Trauungen herzugeben. „Sonst degradieren wir unsere traditionellen Räume, in denen Christen Gott die Ehre geben, zu billigen Eventlocations“, kritisierte Käßmann.
Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus scheint zwischen allen Stühlen zu sitzen. Gegenüber dem Westfalen-Blatt behauptete die Theologin: „Sonderangebote für Reiche und Wichtige zu machen, ist nicht unser Ding und wird es auch nie sein.“ Dass mit der Lindner-Hochzeit auf Sylt aber genau der gegenteilige Eindruck entstanden ist, konnte auch Kurschus nicht abstreiten. Ob eine „Pfarrperson“ (O-Ton Kurschus) von der kirchenrechtlichen Vorgabe abweiche und die Trauung von zwei Kirchenaustretern „aus besonderen seelsorglichen Gründen“ durchführe, sei letztlich auch eine individuelle Abwägung. Sie müsse der Pfarrerin in Keitum vertrauen, dass diese ihre Entscheidung „nach reiflichem Nachdenken“ getroffen habe.
Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen
Vielleicht hatte Pfarrerin Zingel, die die umstrittene Trauung auf Sylt durchführte, aber auch nur die Jahreslosung 2022 im Kopf und fühlte sich den Werten des Christentums mehr verpflichtet als dem Kirchenrecht. Wir wollen das wohlwollend annehmen, denn dann hätte die Theologin eine christliche Entscheidung getroffen. Die Jahreslosung 2022 lautet: „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ (Joh 6, 37)
Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, dass dieser Bibelvers bereits Anfang 2019 als Losung für das Jahr 2022 ausgewählt wurde. Christen in ganz Deutschland erinnern sich nur zu gut, was in den Jahren dazwischen geschehen ist. Der Staat ordnete mehrfach die Schließung der Kirchen an und/oder gestattete Gottesdienste nur unter strengsten Auflagen wie Begrenzung der Teilnehmerzahlen, Gesangsverboten oder 2G- und 3G-Regeln. Haben die Kirchen sich dagegen gewehrt? Ganz im Gegenteil! Der SWR berichtete dazu wie folgt: „Die evangelische Landeskirche geht mit ihren Regelungen über die des Landes hinaus. Sie verbietet Präsenzgottesdienste in der Alarmstufe II für Gemeinden mit einer Sieben-Tage-Inzidenz ab 800. Gottesdienste finden nur noch mit maximal zehn Personen statt, auch eine analoge oder digitale Übertragung ist möglich. Die Ausnahme stellen 2G-Gottesdienste dar. Die Teilnehmerzahl ist auf 25 Prozent der Maximalbelegung beschränkt. Präsenzgottesdienst im Freien ist ohne Einschränkungen möglich.“
Der großartige Peter Hahne hat damals darauf hingewiesen, dass es in der 2000-jährigen Geschichte des Christentums das erste Mal der Fall sei, dass die Kirche sich Gottesdienste verbieten lässt. Mit Verweis auf Mt 11, 28 („Ihr plagt euch mit den Geboten, die die Gesetzeslehrer euch auferlegt haben. Kommt alle zu mir; ich will euch die Last abnehmen.“) erinnerte Hahne daran, dass Jesus Christus alle zu sich ruft – nicht nur die Geimpften, Genesenen und Getesteten.
Menschen wenden sich von der Kirche ab, nicht vom Christentum
Während die EKD Menschen in den Jahren 2020/21 scharenweise abgewiesen hat, erlebten die meisten evangelikalen Freikirchen einen nie gekannten Zulauf. Vielen Christen in Deutschland ist in den vergangenen beiden Jahren klar vor Augen geführt worden, wen ihre Kirche im Zweifel als oberste Autorität anerkennt. Eine Kirche, die sich willfährig staatlichen Einschränkungen unterwirft und in ihren Gottesdiensten ein an den Mainstream angepasstes Evangelium verkündet, braucht kein Mensch. Frühe Kirchenväter wie zum Beispiel Ambrosius von Mailand wären entsetzt, wenn sie sehen müssten, was aus ihrer einstmals stolzen Kirche geworden ist. Ambrosius hatte sich noch mit der staatlichen Obrigkeit angelegt. Am Ende war es Kaiser Theodosius I., der einlenken musste, um wieder am Gottesdienst teilnehmen zu dürfen.
Solche Vorbilder sind in der EKD heutzutage weit und breit nicht in Sicht, so dass inzwischen nicht nur die katholische, sondern auch die evangelische Kirche immer mehr Austritte zu verzeichnen hat. Das Christentum als Religion darf dabei jedoch nicht mit der Kirche als Institution verwechselt werden. Und wer aus der Kirche austritt, ist nicht zwangsläufig auch vom Glauben abgefallen. Nicht selten ist das Gegenteil der Fall und überzeugte Christen müssen schlicht feststellen, dass die Kirche ihnen keine geistliche Heimat mehr bieten kann, weil sie sich zu schnell und zu weit von ihren ursprünglichen Werten entfernt hat.
Ein Grund für den Rekord bei den Kirchenaustritten im Jahr 2021 ist wohl auch in der Personalie Annette Kurschus zu sehen. Die Ratsvorsitzende der EKD trat ihr Amt erst im November 2021 an. Doch anstatt sich darum zu kümmern, dass die Kirchen an Weihnachten bundesweit ohne Einschränkungen geöffnet werden, trat Kurschus als gefühlte Impfbotschafterin der Bundesregierung auf. Natürlich kann Kurschus zu dieser Frage privat stehen, wie sie möchte, in ihrer Eigenschaft als Theologin und Ratsvorsitzende der EKD müssen jedoch andere Anliegen und Aufgaben im Vordergrund stehen.
„Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Es bleibt zu hoffen, dass sich die Kirchen in Deutschland die eigene Jahreslosung auch im Spätjahr zu Herzen nehmen werden, wenn der politische Gegenwind wieder stärker und der Ruf nach Maßnahmen wieder lauter werden wird.
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
Bild: ShutterstockText: kr
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