Ein Gastbeitrag von Gunter Weißgerber. Weißgerber war Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90, Mitbegründer der Ost-SPD, Mitglied der freigewählten Volkskammer 1990, Mitglied des Deutschen Bundestages 1990-2009.
Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit, des Aggressors Blitzkriegsträume sind längst zerplatzt. Könnte Putin seine am 24. Februar 2022 verkündeten Ziele aus dem Internet löschen, würde ihm das leichter fallen, was er demnächst als Erfolg verkünden können müsste. Denn, er wird den Putsch in der Ukraine genauso wenig erreichen wie die Einbindung „Klein-Russlands“ (putinisch für Ukraine) in die russische Föderation und die angebliche „Faschismusbekämpfung“ in der Ukraine. Wer sich hier wie ein Faschist benimmt, ist im Übrigen der Erfinder dieser Diffamierung höchstselbst. Siehe beispielsweise die Faschistengruppe „Wagner“.
Nicht einmal einen Schauprozess à la 1936 gegen Selenskyj und die Klitschkos bekommt der Faschist in Moskau gebacken. Alles andere als das Erreichen seiner Ziele vom 24. Februar ist für Putin eine Niederlage, die er sich und der russischen Welt schönreden muss.
Für die Ukraine hingegen ist alles klar: Der Invasor muss hinter seine Grenzen zurückgeworfen werden, was die Befreiung des Donbass und der Krim einschließt. Der Preis dafür könnte eine immerwährende wehrhafte Neutralität der Ukraine sein. Eine Neutralität, die durch Garantiemächte völkerrechtlich abgesichert werden muss.
De facto würde die Ukraine kein NATO-Mitglied werden, doch die Garantie von NATO-Staaten wie zum Beispiel den Vereinigten Staaten von Amerika würde indirekt auch den Schutz durch die NATO bedeuten. Wladimir Putin könnte das Ergebnis in Russland als Erfolg verkaufen, dabei auf ein miserables Kurzzeitgedächtnis vieler seiner Untertanen bauend.
Doch wie ist das mit Garantien anderer Staaten? Hier ist ein kritischer Blick auf das unheilvolle (Nicht-)Wirken von Barack Obama zu werfen.
2008 ging Barack Obama mit seiner Wahl in die Geschichte als erster schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten ein. Einhundertsechsundvierzig Jahre nach Lincolns Proklamation der Sklavenbefreiung markierte Obamas Präsidentschaft einen gewaltigen Spannungsbogen von den Schrecknissen des Sklavendaseins Farbiger hin zur Teilhabe, mehr noch zum höchsten Machtzugang in der US-amerikanischen Demokratie. Barack Obama wurde für acht Jahre der mächtigste Mann der Welt. Wurde er dieser Macht gerecht? Was bedeutete Obamas Präsidentschaft für das Völkerrecht und internationale Vereinbarungen, was für Europas Freiheit und Sicherheit?
Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen russischen Vernichtungskrieges in der Ukraine stellt sich die Frage nach Barack Obamas tatsächlicher Bedeutung in der Weltgeschichte. Was wird späteren Zeitgenossen zu ihm einfallen? Gut, er war der erste farbige US-Präsident und was war da noch? Eine intelligente, attraktive Frau hatte er auch an seiner Seite. Noch was?
Ob kommende Generationen auch an Obamas Versagen in Syrien 2013 ff. und als Nichtwahrnehmer der Garantiemachtspflichten für das „Budapester Memorandum“ im Jahre 2014 denken werden?
Friedensnobelpreis 2009
2009 wurde Barack Obama, leistungslos sozusagen, als Vorschusslorbeer der Friedensnobelpreis verliehen. Der Preis entpuppte sich als Bürde, nicht als Chance. Im Rückblick bleibt festzustellen: Mit dem Nobelpreis wurden Barack Obama die sicherheitspolitischen Flügel beschnitten. Verurteilt zur Taube verkümmerte der Falke. Wehrhaftigkeit ist ohne Wehrbereitschaft nicht glaubwürdig zu vermitteln. Hasardeure und Potentaten schnupperten Frischluft. Uncle Sam verbreitete Amtsmüdigkeit. Zu unser aller Schaden.
Niemand kann tatsächlich seriös sagen, was Obama ohne diesen moralischen Ballast an Händen, Füßen und Hirn anders gemacht, ob er beispielsweise seine rote Linie in Syrien militärisch verteidigt hätte. 2012 im August postulierte er verdächtig lahm klingend: „Ich habe bis jetzt kein militärisches Eingreifen angeordnet, aber für uns ist eine rote Linie überschritten, wenn eine ganze Menge chemischer Waffen bewegt oder eingesetzt wird.“
Syrien 2013
Wenige Monate später setzte Assad Giftgas ein und der US-Präsident Obama tat – nichts. Keine Flugverbotszone. Schlimmer noch, er ließ sich auf Putin und Lawrow ein. Putins Kläffer für alle Fälle, Außenminister Sergej Lawrow, hat die US-Regierung kurz vor Beginn des G-8-Gipfels vor Militärmaßnahmen im Syrienkonflikt gewarnt. „Lawrow bekräftigte die russischen Zweifel an einem Giftgas-Einsatz in dem Bürgerkriegsland und forderte eine unabhängige Analyse“, schrieb „Die Zeit“ am 15. Juni 2013.
Weitere zwei Jahre später ließ der US-Präsident den direkten Kriegseintritt Russlands in Syrien zu. Seitdem übt Wladimir Putin Weltkrieg. Vorher übte er schon mal Regionalkrieg in Tschetschenien, Georgien und Moldawien. Das Ungeheuer wurde nicht nur von Obama genährt, Deutschlands Kanzlerin, die sie mitschleppenden Energiewendeparteien pfuschten in derselben Liga. Heute zahlt die Ukraine die Hauptzeche, viele andere, auch das sich in Transformation befindliche Energiewendeland Deutschland, zahlen in unterschiedlichen Folgen mit.
„Budapester Memorandum“ 1994
„Durch die militärische Besetzung der Krim und durch ihre Annexion verstieß Russland gegen das sogenannte ‚Budapester Memorandum‘ vom 5. Dezember 1994, in welchem die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Russländische Föderation die territoriale Integrität der Ukraine gegen den Verzicht auf die auf ihrem Territorium lagernden Nuklearwaffen garantiert hatten. Es wurde im Dezember 1994 auf einer Versammlung der ‚Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa/KSZE in Budapest‘ von den drei Garantiemächten und der Ukraine unterzeichnet. ‚In drei getrennten Erklärungen verpflichteten sich die USA, das Vereinigte Königreich und die Russländische Föderation gegenüber der Ukraine (wie auch gegenüber Belarus und Kasachstan) als quid pro quo‘ (lateinisch für Gegenleistung) ‚für den Verzicht auf die auf ihren Territorien lagernden Atom-Waffen die bestehenden Grenzen dieser Staaten (Artikel 1) sowie deren Unabhängigkeit zu respektieren (Artikel 2) – und im Falle eines nuklearen Angriffs auf diese Staaten den Weltsicherheitsrat zu sofortigen Maßnahmen zu veranlassen (Artikel 4). China und Frankreich gaben eigene Erklärungen ab (Zitate aus „Ukrainische Schicksalsjahre 2013-2019“, Band 2, Winfried Schneider-Deters, Berliner Wissenschaftsverlag GmbH 2021, S. 295).“
Am 9. März d. J. erläuterten Annette Heinisch und ich grundsätzliche Fragen zur Ukraine-Invasion. Ich verweise auf den Punkt 2 des Textes:
Können einzelne NATO-Mitgliedsstaaten unabhängig von der NATO eingreifen?
Auch hier lautet die Antwort ja. Die Staaten, die NATO-Mitgliedsstaaten sind, sind nicht gehindert, auch außerhalb des NATO-Rahmens tätig zu werden. Der französische Anti-Terror Einsatz in Mali ist ein Beispiel dafür, auch der Irak-Krieg der USA und ihrer Verbündeten.
Im vorliegenden Fall könnte sogar eine Pflicht zum Eingreifen vorliegen. Im Budapester Memorandum von 1994 haben die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China der Ukraine die Unverletzlichkeit der territorialen Integrität garantiert als Gegenleistung für die Übergabe der Atomwaffen. Dieser gegenseitige Vertrag wurde von der Ukraine eingehalten, Russland – obgleich Garantiemacht – wurde zum Aggressor. Die anderen schreiten pflichtwidrig nicht ein und verletzen damit ihre Schutzpflicht.
Nach einer Rechtsansicht handelte es sich beim Budapester Memorandum allerdings nur um eine nicht rechtsverbindliche Erklärung, andere Rechtsexperten halten es für völkerrechtlich verbindlich.
Um eine reine Absichtserklärung handelt es sich objektiv nicht, denn über die verbale Ebene hinaus übergab die Ukraine ihre Nuklearwaffen an Russland, gab damit ein elementares Faustpfand ihrer eigenen Sicherheit ab. Wäre sie noch nuklear bewaffnet, wäre der derzeitige Krieg eher unwahrscheinlich. Es dürfte daher ein gegenseitig bindender Vertrag vorliegen, dessen Verletzung seitens der Garantiemächte einen schweren Verstoß gegen die regelbasierte Weltordnung darstellt. Falls die Garantiemächte nie die Absicht hatten, für die Sicherheit der Ukraine zu garantieren, dann läge eine Täuschungshandlung vor, was zur Anfechtung und Rückabwicklung führen müsste. In der Folge würde dann die Ukraine ihre Nuklearwaffen wiedererhalten.
Der häufig gehörte Einwand, Schutz sei praktisch nicht zu gewährleisten, dürfte in dieser Form wenig Substanz haben. Selbstverständlich ließe sich die territoriale Integrität der Ukraine durch Truppenstationierung der Garantiemächte sicherstellen, zumindest hätten diese Mächte dann vertragsgemäß gehandelt, wenn und soweit sie mit Zustimmung der Ukraine dort wären. Würde man behaupten, Schutzpflichten seien nicht einzuhalten, dann wäre überdies der NATO-Vertrag gegenstandslos.
Dass derartige Schutzverpflichtungen neben und unbeschadet der Verpflichtungen aus dem NATO-Vertrag bestehen können, ergibt sich aus dessen Art. 8:
“Jede Partei erklärt, dass keine der internationalen Verpflichtungen, die gegenwärtig zwischen ihr und einer anderen Partei oder einem dritten Staat bestehen, den Bestimmungen dieses Vertrags widerspricht und verpflichtet sich, keine diesem Vertrag widersprechende internationale Verpflichtung einzugehen.”.
Es ist also klar, dass es daneben andere Verpflichtungen geben kann, die allerdings nicht den Zweck des NATO-Vertrages konterkarieren dürfen.
Auch einzelne Mitgliedsstaaten der NATO können also Hilfe leisten. Insoweit sei erneut auf die UNO-Resolution 1973 verwiesen, an deren Umsetzung nicht alle NATO-Staaten gleichermaßen beteiligt waren.“
Fazit: Die USA und Großbritannien hätten die Ukraine 2014 gegen Russlands Einmarsch nicht nur schützen können – sondern müssen. In diesem Sinne ist Barack Obama als Förderer wider Willen von Wladimir Putins Eroberungs- und Großreichrekonstruktionspolitik zu sehen. Ohne Obamas Versagen kein Ukraine-Krieg seit 2014!
Ukraine 2014
Putin marschierte 2014 in die Ukraine ein, begleitete die Besetzung nach Stalins Drehbuch von 1940 im Baltikum (damals Scheinwahlen) mit einem „Referendum“ über die staatliche Autonomie in den Gebieten Luhansk und Donezk per Waffe am Kopf der Einwohner und besetzte die Krim. Neben dem „Budapester Memorandum“ von 1994 verletzte er die „KSZE-Schlussakte“ von 1975, die „Charta von Paris“ 1990, die „NATO-Russlandakte“ von 1997 und den ukrainisch-russischen „Freundschaftsvertrag“ von 2008.
Zeitgenossen auf linker und auf AfD-Seite kolportieren gebetsmühlenartig die Legende, wonach Obama die guten (russlandfreundlichen) Regierungen und Oligarchen aus den Ämtern und den Netzwerken gedrängt haben soll.
Der Bodensatz des Märchens dürfte aus Moskaus Nebelküchen stammen. Für Moskau kann es keinen eigenständigen Volkswillen geben. Schon immer müssen CIA und Faschisten am Werk sein. Deshalb hieß die Todesmauer durch Berlin bekanntlich „Antifaschistischer Schutzwall“ und deshalb hießen der 1953er-Volksaufstand in Ostdeutschland, der 1956er ungarische Volksaufstand, der 1968er „Prager Frühling“, die polnische Freiheitsbewegung faschistische Bewegungen. Dieselben Begriffe galten 1989 auch den ostdeutschen friedlichen Revolutionären. Wer anderer Meinung als Moskau ist, kann nur Faschist sein. 2004 zur „Orangenen Revolution“ und 2014 zum Maidan wurde die KGB-Textstücke ein weiteres Mal aus der Gruft gezogen. Mit denselben Parolen griff Putin am 24. Februar die freie Ukraine brutal an. Einfallsreich ist das nicht gerade. In politisch schlichten Gemütern schlägt es dessen ungeachtet immer noch zuverlässig ein.
Wenn schon Obamas Verantwortung für die Misere der Ukraine zu benennen ist, dann diese: Der US-Präsident verweigerte sich der Pflicht, das „Budapester Memorandum“ mit allen Mitteln zu schützen. Ein anderer US-Präsident wie beispielsweise Ronald Reagan hätte mit Sicherheit stärker gehandelt.
Putin, Obama, Verträge
Wladimir Putin bewies seit Amtsantritt 2000 immer wieder eindrücklich: Verträge und Garantien haben für ihn lediglich taktische Geltung. Transnistrien, gehörig zur Republik Moldau, sollte 2002 von Russland gemäß des OSZE-Gipfels von 1999 freigegeben werden und ist noch immer russisch kontrolliert, Georgien ist seit 2008 in Südossetien ähnlich der Ost-Ukraine ebenfalls widerrechtlich russisch besetzt.
Die zwei anderen Garantiemächte des „Budapester Memorandums“, USA und Großbritannien, zeigten 2014 ff. dieselbe Haltung, jedenfalls setzten sie sich nicht nachdrücklich mit allen Mitteln für die Einhaltung völkerrechtlich bindender Vereinbarungen ein. Siehe oben.
Obamas Fehler wettmachen
Den eigentlichen Kampf muss die Ukraine wohl selbst durchstehen. Allein ist sie dennoch nicht. Die NATO gedenkt zwar nicht, in den Krieg als Partei einzutreten, die militärische Hilfe, die ihre Mitgliedsstaaten leisten, ist enorm und erinnert an beste Traditionen des alliierten Kampfes gegen NS-Deutschland. Damals lieferten besonders die Vereinigten Staaten gewaltige Mengen an Kriegstechnik und Versorgungsgüter in die Sowjetunion. Heute ist Russland in der Art und Weise seines Krieges gegen die ukrainische Zivilbevölkerung ein ähnlicher Aggressor, der erneut mit allen technischen Möglichkeiten zu bekämpfen ist. Im Moment versagen weder die NATO als Ganzes noch ihre Mitgliedsstaaten. Die Situation unterscheidet sich diametral von der der Jahre seit 2014. Das gibt Hoffnung und Zuversicht, dass ein möglicher Friedensvertrag zwischen der Ukraine und Russland von Garantiemächten begleitet wird, die ihre Garantiepflichten mit allen Mittel einhalten werden.
Mir fiel am 27. März 2022 eine Einschätzung eines Freundes auf. R. H. schreibt:
„Wer heute die Bilder im WELTSPIEGEL/ARD von Mariupol u.a. gesehen hat, kann nur verzweifeln, ob der Trägheit der Budapester Signaturmächte und des Westens insgesamt. Wenn, wann nicht jetzt, MIG-29 Flugzeuge, weit reichende S-300 Flugabwehrraketen, IRON DOME samt Ausbildung der Bedienungsmannschaften, etc.. und, wenn dies alles nicht hilft, den Terror der russischen Streitkräfte auf die Zivilbevölkerung zu stoppen, die Androhung des Einsatzes von limitierten Flug- und Cruise-missile-Verbotszonen (natürlich wohlüberlegte und geplant).
Um zu verhindern, was gerade passiert:
Das Ausradieren ganzer Großstädte und ihrer Bevölkerung. Musikveranstaltungen, ob mit oder ohne russische Musiker, mögen eine nette Geste sein. Der Ukraine helfen sie nicht. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Ukraine allein, es geht um die Zukunft unserer freiheitlichen europäischen Zivilisation.“
Die ukrainische Nation
Das Zusammenwachsen der ukrainischen Nation wurde durch Putins brutalen Überfall quasi katalytisch beschleunigt und dürfte für eine sehr souverän auftretende Nachkriegsukraine sorgen. Wladimir Putin schafft sich eine mächtige gegnerische Bastion.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de. Dieser Beitrag ist zunächst auf www.weissgerber-freiheit.de erschienen.
Bild: ShutterstokText: Gast