Heute wäre eine Entschuldigung von mir bei den Menschen in Russland fällig. In den vielen Jahren dort habe ich die Probleme etwa im Flugverkehr immer mit der Aussage kommentiert, diese lägen auch daran, dass die „Apparatschiks“ überall Privilegien haben – etwa, weil Flugzeuge mit ihnen an Bord bevorzugt behandelt werden. In Deutschland, so erzählte ich damals oft Freunden und Bekannten, sei das undenkbar.
Ohne böse Absicht habe ich dabei meine russischen Gesprächspartner belogen, wie sich jetzt herausstellt. Denn was ich jetzt über die Privilegien von Politikern bei der Deutschen Bahn lesen musste, machte mich völlig sprachlos. Und erinnert mich an schlechte, postkommunistische Traditionen in Russland. Das enthüllte jetzt ausgerechnet der sonst so brave „Spiegel„: „Reisen etwa hochrangige Politikerinnen oder Politiker angekündigt mit dem Zug, dann tritt offenbar die Konzernrichtlinie 199, Modul 1, in Kraft: ‘Reisen nach Sondervorschrift‘“, schrieb das Blatt unter Berufung auf „Bahnkreise“.
Doch damit nicht genug: „Der betroffene Zug werde besonders getestet – Klimaanlage! – sowie grundgereinigt. Bestünden nur geringste Zweifel an seiner Funktionsfähigkeit, würde der Zug vor Abfahrt, wenn möglich, noch schnell ausgewechselt. In Stellwerken bekämen die Fahrdienstleiterinnen und Fahrdienstleiter die Aufgabe, den Zug mit VIP-Besetzung vorrangig und mit besonderer Hingabe durchs Land zu lenken. Devise: alle Signale auf Grün. Auf gar keinen Fall, so berichten Eingeweihte, solle der Zug auf der Strecke stehen bleiben, notfalls müssten andere Züge warten.“
Da fehlen einem schlicht die Worte. Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich genauso wie ich oft fragen, ob unsere Politiker in einer Parallelwelt leben, haben Sie hier die Antwort. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie dann zwei Minister am Kabinettstisch die Nase rümpfen: „Also, was die Leute sich immer beklagen über die Bahn, bei mir funktioniert immer alles einwandfrei, wenn ich Zug fahre! Die haben einfach Freude am Stänkern!“
Diese Parallel-Realität für Politiker ist typisch für autokratische Systeme und eine riesige Gefahr für eine Demokratie. Leider ist sie weit verbreitet. Im Lockdown habe ich etwa darüber berichtet, wie man in der edlen Bundestagskantine noch wunderbar schlemmen konnte, während Kantinen und Restaurants für Normalsterbliche längst geschlossen waren (siehe meinen Beitrag „Corona-Schlemmen im Bundestag – Essen wie in alten Zeiten). Bayerns Innenminister Joachim Herrmann gönnte sich mitten im Lockdown gar ein Drei-Sterne-Menü mit Polizei-Oberen (siehe meinen Text: „Lockdown für den Pöbel, Drei-Gang-Menü für Söders Minister und Polizei-Chefs„)