Ein Gastbeitrag von Annette Heinisch
Mein hochgeschätzter Kollege Wolfgang Kubicki hat kürzlich gefordert, die Pipeline Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen. Er räumt ein, dass die technischen Probleme bei Nord Stream 1 vorgeschoben sind, aber man solle es dem Kreml nicht so leicht machen, damit durchzukommen. Er hält es daher für zielführend, Nord Stream 2 zu öffnen, denn es nütze nichts, wenn man Deutschland „an die Wand fährt“, um es verkürzt auszudrücken.
Zunächst einmal finde ich es außerordentlich begrüßenswert, dass – endlich – wieder lebhafte Debatten in Deutschland geführt werden. Dies gilt ausdrücklich auch dann, wenn Meinungen geäußert werden, die ich nicht teile oder sogar für abwegig halte.
Die Ansicht von Kubicki teile ich aus folgenden Gründen nicht:
1. Einigkeit besteht insoweit, als es keinen Sinn macht, Deutschland zu ruinieren. Diese Auffassung vertrete ich nachweislich seit langem. Dafür ist von grundlegender Bedeutung, das Land zuverlässig und stabil mit preiswerter Energie zu versorgen.
Die Feststellung, es sei klar, dass die technischen Probleme bei Nord Stream 1 vorgeschoben sind und die Forderung andererseits, Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen, sind jedoch widersprüchlich. Es ist dieselbe Denkweise, die folgert, wenn ein Windrad bei Windstille nicht ausreichend Energie liefert, dann baut man eben mehr. Die Multiplikation mit 0 ist und bleibt 0.
Kein stabile Energieversorgung auch mit Nordstream 2
Da also darüber offenbar Einigkeit besteht, dass Putin den Gashahn nach Belieben auf- und zudreht, die Gaslieferungen also nicht zuverlässig erfolgen, ist die von Kubicki angeführte Gefahr für Deutschland durch die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 gerade nicht gebannt. Ob man über eine oder zwei Pipelines kein Gas bekommt oder mal mehr und mal weniger, ist irrelevant.
Eine stabile Energieversorgung wäre daher auch mit Nord Stream 2 nicht gesichert. Dies ist bestenfalls Wunschdenken, was allerdings auch bisher kennzeichnendes Merkmal deutscher Politik war.
Der von ihm geäußerte Gedanke, man dürfe es dem Kreml nicht so leicht machen, ist bezüglich des Themas Versorgungssicherheit irrelevant. Es handelt sich um eine pädagogische Überlegung, deren Sinn offenbar darin besteht, auch den letzten Zweifler zu überzeugen. Ob dies gelingt, ist eher unwahrscheinlich. Wer es bis jetzt nicht begriffen hat, wird es auch weiter nicht verstehen.
2. Wollte man preiswerte und zuverlässige Energie haben, böten sich diverse andere Möglichkeiten. Bevor diese nicht ausgeschöpft sind, verbieten sich Überlegungen, einem Staat, der einen Angriffskrieg führt und dies auch noch auf verbrecherische Art und Weise, zusätzliche Einnahmequellen zu verschaffen. Dies ist keineswegs eine moralische Überlegung, sondern eine außen- und sicherheitspolitische. Sie liegt in unserem eigenen Interesse.
Deutschland hat sich mit seiner „dümmsten Energiepolitik“ die weltweite Häme redlich verdient. Es ist nachvollziehbar, dass diejenigen, die für diese Politik Verantwortung tragen, diese auch heute fortsetzen wollen. Bewährtes Mittel ist die Darstellung einer vermeintlichen „Alternativlosigkeit“.
Politik glänzt durch Untätigkeit
Das allerdings ist nicht der Fall. Es wurde auf die Möglichkeit des Frackings zwecks Gasgewinnung ausreichend hingewiesen. Hätte man in Erkenntnis der Zeitenwende sofort mit Fracking begonnen, wären die Gas-Probleme diesen Winter weitgehend obsolet. Die FDP ist in der Regierung – warum hat sie nicht dafür gesorgt? Auch jetzt ist noch Zeit.
Es gibt aber nicht nur Fracking-Gas, sondern auch ganz „normal“ Erdgas. Die deutschen Vorräte sind insoweit begrenzt, aber sie reichen für diesen und noch für weitere Winter. Die Ausweitung der bereits bestehenden Gasförderung wäre kurzfristig möglich. Die FDP ist in der Regierung – warum hat sie nicht dafür gesorgt? Auch hier tickt die Uhr.
Im Übrigen gibt es noch Kohleflözgas aus Bergwerken, hier glänzt die Politik durch Untätigkeit. Kohlekraftwerke könnten in größerem Umfang wieder ans Netz gehen, nichts geschieht.
Die Verlogenheit der Debatte wird daran deutlich, dass immer noch über die Notwendigkeit des Weiterbetriebs der letzten AKW gestritten wird. Wer das Problem durch Abschalten der AKW verschärft, sieht keinerlei Dringlichkeit. Dann aber brauchen wir uns über Nord Stream 2 überhaupt nicht unterhalten.
Es ist also mitnichten so, dass ein katastrophaler Winter kommen muss. Wenn er kommt, dann liegt es daran, dass die deutsche Politik nicht alles in ihrer Macht Stehende getan hat, einen solchen abzuwenden.
Die Überlegung, Nord Stream 2 zu öffnen, ist also weder zwingend geboten, weil es andere Wege gäbe, noch ist sie zielführend, weil eine zuverlässige Gasversorgung auch dann nicht gesichert wäre.
Ein solches Vorgehen hätte aber erhebliche negative Folgen, die bisher weitgehend ausgeblendet werden. Unsere Partner in der EU (aber auch andere Verbündete) haben eindringlich versucht, uns von einer Energiepolitik abzubringen, die uns schwächt und abhängig macht, demgegenüber aber einen potentiellen und für jedermann erkennbar angriffslustigen Gegner stärkt. Außerhalb Deutschlands wird unsere Rolle außerordentlich kritisch über Parteigrenzen hinweg bewertet. Dieses wird hier ganz erheblich unterschätzt. Deutsches Geld wurde für den Aufbau der russischen Kriegsmaschinerie ebenso verwendet wie deutsche Bauteile. Der Unwille, Russland als die Gefahr zu sehen, die es darstellt und erkennbaren Gefahren mit fortgesetztem Wunschdenken inadäquat zu begegnen, waren wesentliche Faktoren, die mitursächlich für diesen Krieg sind.
Ebenso ist klar, dass Putin darauf baut, dass die verweichlichten Deutschen bei den ersten Problemen einknicken, was einen Keil in das westliche Bündnis treiben würde. Nicht umsonst kommt gerade dann, wenn die Diskussion über Nord Stream 2 hier hochkocht, kein Gas mehr über Nord Stream 1, er zieht sozusagen die Daumenschrauben an. Würden wir seiner Erpressung nachgeben, hätte das ebenso katastrophale wie weitreichende Folgen: Der Veränderungsdruck hin zu einer vernünftigen Energiepolitik wäre weg (was die Politik begrüßen würde), Deutschland hinge weiter von Putins Gnaden ab.
Die westliche Allianz, schon bisher zunehmend befremdet, würde sich deutlich von uns distanzieren, was Putins Kalkül entspricht.
Bereits derzeit besteht eine realistische Gefahr, dass sich die mittel- und osteuropäischen Staaten zusammen mit Skandinavien, dem Vereinigten Königreich, den USA, Kanada, Australien und Neuseeland (wohl auch mit Singapur, Südkorea und Taiwan) zu einer Achse zusammenfinden, bei der Deutschland keine Rolle mehr spielt. Dann wären wir deutlicher abgeschnitten vom Welthandel, als wir uns das in unseren schlimmsten Träumen vorstellen könnten, denn das könnte China nicht einmal dann kompensieren, wenn es das wollte. Dass vollständige Abhängigkeiten (von Russland bezüglich Energie, von China bezüglich Wirtschaft) für uns fatal sind, liegt auf der Hand. Diese Gefahr droht allerdings wegen des Verhaltens der Bundesregierung bereits jetzt, sie hat sich als zu unsicherer Kantonist erwiesen. Weltweit wird sehr deutlich zur Kenntnis genommen, dass Worte und Taten bezüglich der russischen Aggression enorm auseinanderklaffen.
Bekommt Deutschland aber nicht einmal jetzt die Kurve, sondern knickt ein, verlieren wir auch die Unterstützung anderer europäischer Partner. Ob Staaten Südamerikas oder Afrikas die strikte Linie gegen Russland mitmachen oder nicht, ist im Ergebnis gleichgültig. Ihre Volkswirtschaften spielen nicht diese bedeutende Rolle und sie liegen auch strategisch bezüglich dieses Krieges weitab vom Schuss. Bei Deutschland ist dies anders.
Eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 sichert also nicht zuverlässig einen warmen Winter. Dies ist reines Wunschdenken. Im Gegenteil erhöhte diese die Abhängigkeit von Russland und minimierte gleichzeitig den Druck, endlich eine vernunftbasierte Energiepolitik zu implementieren. Außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitisch hätte ein solches Vorgehen langfristig ganz gravierende, negative Konsequenzen. Vor diesen verschließen viele derjenigen die Augen, die sich derzeit für eine Inbetriebnahme aussprechen. Häufig – wie auch leider bei dem Kollegen Kubicki der Fall – sind es genau diejenigen, die bereits zuvor Putin und seine Absichten völlig falsch einschätzten.
Es ist ein Negativmerkmal deutscher Politik, dass man für einen vermeintlichen, kurzfristigen Vorteil desaströse langfristige Folgen in Kauf nimmt. Diese werden ausgeblendet, schöngeredet oder aber Menschen, die darauf hinweisen, mundtot gemacht. Das Ergebnis sehen wir jetzt. Zeigt Deutschland nicht, dass es aus seinen Fehlern lernt, wird es einsam um uns werden. Und wir müssen uns fragen, ob wir wirklich zu den Staaten gehören wollen, die dann unsere Partner sind. Denn machen wir uns nichts vor: Wenn wir jetzt, trotz allem, Nord Stream 2 öffnen, wird es kein Zurück mehr geben. Alles andere ist Illusion.
Wie sang Udo Jürgens einst? „Illusionen blühen der Wirklichkeit, zum Tanz der Jugendzeit. Ein erster Hauch von Leid wird sie verwehen.“
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Annette Heinisch. Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.
Bild: NetzfundText: Gast