Ein Gastbeitrag von Annette Heinisch und Gunter Weißgerber
Nach der vollmundig angekündigten Zeitenwende kommt die Wende der Zeitenwende schneller als gedacht. Zu viele sind auf dem falschen Fuß erwischt worden und müssen nun erklären, dass das eigentlich nicht der Falsche war, im Prinzip sei alles gut und richtig. Schließlich war die Regierung Merkel einer der wichtigsten Wegbereiter dieser Invasion, wie Arnold Vaatz zutreffend urteilte.
Merkel sieht bekanntlich nie Fehler, Selbstreflexion ist ein Fremdwort für sie, jedenfalls bezüglich der grundlegenden Weichenstellungen. Verantwortung für das eigene Verhalten übernimmt sie nie. Je schwerwiegender die Fehler, je tödlicher die Folgen, desto weniger erträgt sie einen Blick in den Spiegel: Merkel steht also auch bei der Ukraine zu ihrer Entscheidung, die typisch für sie ist.
Das war der Startschuss zur neuen Agenda, die nun auch in den Medien gestrickt wird. Plötzlich tauchen die falschen Propheten aus der Versenkung auf, deren schlechter Rat maßgeblich zur derzeit desaströsen Situation beigetragen hat, allen voran Brigadegeneral a. D. Vad, der Berater der Kanzlerin war. Er stört sich daran, dass es Politiker gibt, die militärische Lösungen für zielführend halten, warnt vor Waffenlieferungen und Eskalation. Man müsse am Ende (!) einen Waffenstillstand haben und unseren Akzent auf die Zeit danach setzen.
Loyal wie Schröder zu Putin, steht Vad zu Merkel, was allerdings auch daran liegen könnte, dass das eigene Ansehen daran gekettet ist. Welches Ende meint Vad eigentlich? Dass der Ukraine? Damit Deutschland nach einer kurzen Peinlichkeitspause munter weiter mit Russland Geschäfte machen kann? Und wieso Waffenstillstand? Der Aggressor muss aus dem Land, Punkt. Das aber scheint außerhalb deutscher Vorstellungswelt zu liegen, die gekennzeichnet ist durch eine Verlierermentalität.
Immerhin ergeben sich unbeabsichtigt Einblicke in die Führung der Bundeswehr: Wenn diejenigen General werden, die alles Militärische auch zur Selbstverteidigung ablehnen, muss man sich nicht wundern, wenn Deutschland schutzlos dasteht. Glücklicherweise gibt es auch Generäle, die anders denken: „Es ist diese Art von Selbstabschreckung besonders bei den Deutschen, mit welcher Präsident Putin lustvoll spielt. Ihn nur nicht provozieren! Hat es denn für seinen Unterwerfungskrieg gegen die Ukraine irgendeiner „Provokation“ bedurft?“, so fragt der Historiker und Brigadegeneral a. D. Klaus Wittmann zu Recht.
Es ist aber nicht nur Putin, der lustvoll mit unserer Selbstabschreckung spielt. Auch Kanzler Scholz nutzt wie seine Vorgängerin die Methode „Angst isst Hirn“, indem er sein Verhalten damit rechtfertigt, er wolle eine Eskalation verhindern, die zum dritten Weltkrieg führe. „Es darf keinen Atomkrieg geben“. Susanne Gaschke fragt zurecht, ob Scholz über ein Geheimwissen verfügt, das anderen NATO – Staatsführer nicht haben, denn diese liefern Waffen.
Dies gilt insbesondere, weil unser Anteil an den Lieferungen im Verhältnis zu denen anderer Nationen so gering ist, dass die Verquickung mit Atomkrieg erkennbar nur auf hysterische Seelen abzielt, ohne jedes realistische Fundament. Auch die Unterscheidung von Verteidigungs – und Angriffswaffen ebenso wie zwischen leichten und schweren Waffen ist eine rein deutsche Erfindung: Irgendeine Regel, die hier eine Differenzierung ermöglicht und dann auch noch dazu führen könnte, dass es sich um einen Kriegseintritt handelt, ist schlicht nicht existent.
Norbert Bolz trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: „Dritter Weltkrieg ist ein Horrorszenario, das ähnlich wie Super-GAU, Klimakatastrophe und Killervirus ein Angstmaximum erzeugt, das politisches Denken unmöglich macht.“
Er weist auch darauf hin, dass das Horrorszenario Atomkrieg unterstelle, dass Putin wahnsinnig sei, was sehr unrealistisch sei.
Scholz' merkwürdiges Verhalten
In Teilen der Presse wird das widersprüchliche Taktieren von Kanzler Scholz als Heldentat gefeiert. Das Verhalten sei richtig, es hapere lediglich an der Kommunikation, heißt es. Also stimmt nur das „wording“ in dem „blame game“ nicht? Klingt auch aus anderem Zusammenhang bekannt. Okay, dann hilft man Scholz eben mit einem neuen „framing“. Die üblen Verstrickungen der SPD mit Russland, die manche an der Grenze zum Landesverrat sehen, sind offenbar kein Grund für sein äußerst merkwürdiges Verhalten. Scholz ist auch nicht aufgrund seines Persönlichkeitsprofils zur Führung völlig ungeeignet, nein, diese Schwäche sei in Wahrheit seine Stärke: Er sei ruhig und besonnen, was in einer derart gefährlichen Lage von Vorteil sei, denn sonst eskaliere alles, Europa könne dann in Flammen stehen.
„Der Überfall Putins auf die Ukraine hat deutlich gemacht, dass er im Zweifel vor nichts zurückschreckt. Da ist ein vorsichtiges, besonnenes Verhalten auf unserer Seite wahrscheinlich die beste Waffe. Wer aus berechtigter moralischer Empörung und Solidarität dem ukrainischen Präsidenten und seinem Berliner Botschafter jeden Wunsch nach militärischer Hilfe von den Augen abliest, könnte schnell selber zur Kriegspartei werden. Und ob damit der Ukraine geholfen ist, kann durchaus bezweifelt werden.“, so Stefan Aust.
Aust, an anderer Stelle meist sehr klar – jedenfalls im Nachhinein – entpuppt sich hier als Lavierer. Schade.
Wenn dem so ist, dass Putin alles zuzutrauen ist, was er ganz im Stil des brutalen deutschen Verkünders der zwanziger Jahre und in-die-Tat-Umsetzers der dreißiger und vierziger Jahre verkündet, dann ist es doch an uns, ihm gerade nicht unser Schicksal in die Hände zu geben! Putin muss ganz genau wissen, der Westen hält Wort.
Gewalttäter verstehen nur ihre Sprache der Gewalt. Alles andere nehmen sie nicht ernst. Bis zum 24. Februar d. J. sah Putin keinen Grund, den Westen ernst zu nehmen. Mit seinem wehrmachtsähnlichen Überfall auf ein friedliches Nachbarland rüttelte er die NATO stärker auf, als es irgendwelche US-Präsidenten jemals geschafft hätten.
Und richtig, der Überfall Putins hat gezeigt, dass er vor nichts zurückschreckt. Es gab keinen Kriegsgrund, trotz all des vorsichtigen Verhaltens des Westens begann er den Krieg. Also was soll dann ein solches Verhalten nützen? Das ist doch nicht einmal logisch stringent! Wie war das noch mit der Definition von Wahnsinn? Immer dasselbe tun und auf einen anderen Ausgang hoffen? Wer eine Eskalation vermeiden oder stoppen möchte, muss zwingend die Eskalationshoheit haben. Hat die Gegenseite die Eskalationshoheit und ist bereit, über Leichen zu gehen, dann kann man nichts mehr stoppen, man kann nur hinterherlaufen, reagieren. Daher hat das bisherige Zurückweichen völlig vorhersehbar zur Eskalation geführt, denn für Putin war sein Weg erfolgreich. So lange er die Eskalationsdominanz hat und damit gewinnt, kann er bis zum Atlantik durchmarschieren, die labernden und weinerlichen Deutschen einfach überrollend. Nur dann, wenn man die Eskalationshoheit zurückgewinnt, kann man die Gewaltspirale stoppen. Erst dann und nur dann gibt es eine Basis für ernsthafte Verhandlungen. Ohne Abschreckung keine Verhandlung.
Man stelle sich das Jahr 1942 und NS-Deutschlands Ausdehnung vor.
Angenommen, die Pazifisten der westlichen Welt hätten ihre Regierungen erfolgreich gezwungen, mit Hitler einen Frieden anzustreben. Hätte er die Vernichtungslager geschlossen, die Slawen nicht der Versklavung preisgegeben? Wäre dem Massenmörder nach einem Vertrag zu trauen gewesen? Ganz abgesehen davon, so ein Vertrag wäre zu Lasten Dritter gegangen – der besetzten Nationalstaaten und ihrer Bevölkerungen.
Was kommt als nächstes?
Sehr entlarvend auch der Satz, dass sonst Europa brenne. Welches Europa? Das Europa der Europäischen Union oder das komplette Europa vom Atlantik bis zum Ural? Brennt nicht bereits Europa seit 1992 in Moldawien/Transnistrien und brennt es nicht bereits seit 2008 in Georgien und seit 2014 in der Ukraine? Hatte der Brandstifter nicht die „Orangene Revolution“ von 2004 in der Ukraine mittels seiner Energiemacht in die Knie gezwungen und seinen Satrapen Jewtuschenko ins Amt gedrückt und hatte der Brandstifter nicht den „Maidan“ 2014 im Blut ersticken wollen und besetzte er in Folge nicht Teile der Ostukraine und die Krim? Europa brennt seit langem und der Brandstifter soll jetzt die Ukraine auf dem Silbertablett serviert bekommen? Der ukrainischen Bevölkerung soll ein „Blutfrieden“ (Ruhrbarone, Stefan Laurin) aufgezwungen werden? Soll das wirklich so geschehen? Nein und nochmals Nein! Was kommt als nächstes? Das Baltikum? Moldawien? Finnland? Die EU bis an die Elbe? Putin wird erst Ruhe geben, wenn er für seine Gebietsansprüche keine Chancen mehr sieht. Es liegt an uns, an der NATO, an der EU, dem Mann im Kreml Einhalt zu gebieten. Ohne eigene Aggressivität, wohl aber mit der Sicherheit unserer Konsequenz.
Die Bürger wollten bei der letzten Wahl einen Wechsel. Bekommen haben sie sozusagen dasselbe in grün. Nun stemmen sich all die Gestrigen, die Deutschland so konsequent an den Abgrund führten, weil sie das Land ebenso wie seine Menschen verachten, gegen den Wandel. Das ist verständlich, aber falsch. In der Ukraine herrscht bisher ein asymmetrischer Krieg in dem Sinne, dass die eine Seite ganz offen auftritt, die andere aber einen Stellvertreterkrieg führen muss. Dabei geht es nicht nur um die weiteren imperialen Gelüste Russlands. „In diesem Sinne muss man den Charakter des russischen Regimes und seiner Ziele sowie die Unrechtmäßigkeit dieses Krieges erkennen. Und wissen, dass er nach einem Erfolg nicht haltmachen würde bei der Einverleibung oder Zerstückelung der Ukraine.“
Über den europäischen Kontext hinaus geht es auch um Chinas Expansionspläne. China beobachtet und analysiert sehr genau, was derzeit vorgeht.
Jedes Zurückschrecken des Westens davor, für die eigenen Werte einzustehen, wird als Beweis dafür angesehen, wie degeneriert und damit schwach der Westen ist. Damit wird ein Krieg um Taiwan und die Vorherrschaft im südchinesischen Meer ebenso wahrscheinlicher wie die flächenbrandmäßige Ausbreitung des Krieges auf dem europäischen Kontinent. Auch die arabische Welt, ebenso wenig demokratisch und menschrechtsorientiert gesonnen wie Russland und China, beobachtet sehr genau, ob der Westen noch zur Verteidigung bereit und in der Lage ist. Bisher hat der Westen den Kampf noch nicht einmal aufgenommen, sondern lässt die Ukraine kämpfen. Deutschland hat sich mit seinem Verhalten isoliert, ist aus Sicht der westlichen Staaten nicht einmal mehr ein fester Bestandteil des Westens – eine Gefahr, die langfristig in jeder Hinsicht für Deutschland ungleich größer ist als jede, die durch ein Engagement im Ukraine–Krieg drohen könnte.
Je früher und entschiedener der Westen den Kampf aufnimmt, desto größer seine Chance des Überlebens. Denn eines muss klar sein: Der Westen ist zum Siegen verdammt!
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Annette Heinisch. Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.
Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de. Dieser Beitrag ist zunächst auf www.weissgerber-freiheit.de erschienen.
Bild: ShutterstokText: Gast