Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger
1939, kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und kurz nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts, trafen sich in Paris die beiden emigrierten Autoren Friedrich Torberg und Egon Erwin Kisch. Torberg wollte Kisch, der sich als überzeugter Kommunist verstand, eine Äußerung über den Pakt abringen und berichtete viele Jahre später, Kisch habe starrköpfig abgewehrt. Er habe „die Tatsachen zur Kenntnis genommen, und Schluss.“ Aber irgendetwas, beharrte Torberg, müsse er sich doch dabei gedacht haben! Und Kisch antwortete: „Für mich denkt Stalin.“
Eine Antwort aus alter Zeit, selbstverständlich, denn wer käme heute noch darauf, andere Menschen, Autoritäten gar, für sich denken zu lassen? Kann man im Ernst glauben, ein in modernen, in aufgeklärten Zeiten lebender Mensch würde einfach die Auffassungen und Äußerungen der beeindruckend banalen Bundeskanzlerin oder vielleicht der Angehörigen der professoral-politmedizinischen Dreifaltigkeit aus Christian Drosten, Lothar Wieler und Karl Lyssenko Lauterbach unkritisch und ohne weitere Prüfung als die seinen übernehmen? Glauben kann man es nicht, dennoch geschieht es in bedenklichem Ausmaß. Noch immer dürften beispielsweise viele davon ausgehen, man könne bei einem PCR-Test zu „hundert Prozent rauskriegen, ob jemand die Krankheit hat“, denn falls ein PCR-Test positiv sei, „dann hat der Mensch SARS-CoV-2“, weil die unbegreifliche Uckermärker Unionsabgeordnete genau diese Äußerung vor dem Bundestag getan hat: Wobei ich einmal davon absehen will, dass sie erstaunlicherweise SARS-CoV-19 statt SARS-CoV-2 sagte. Richtig ist daran gar nichts, aber die richtigen und wichtigen Leute haben es gesagt.
Und noch immer hält sich hartnäckig die Behauptung, 2020 habe in Deutschland eine Übersterblichkeit vorgelegen. In drei früheren Beiträgen habe ich gezeigt, dass man für das Jahr 2020 weder in Deutschland noch in Schweden von Übersterblichkeit sprechen kann und dass sich auch die Entwicklung der Todesfälle in Schweden in den ersten vier Monaten 2021 in einem durchschnittlichen, sogar eher milden Rahmen bewegt. Inzwischen liegen für Deutschland die Daten der Sterbefälle für das erste Halbjahr 2021 vor, die ich im Folgenden näher untersuchen will. Die Methode ist dabei die gleiche wie bei den bisherigen Untersuchungen, man muss sie dennoch kurz erläutern.
Den Daten des Statistischen Bundesamtes, abgerufen am 19. Juli 2021, kann man entnehmen, dass 83.155.031 Menschen zu Beginn des Jahres 2021 in Deutschland lebten. Gestorben sind – wieder nach den Auswertungen des Statistischen Bundesamtes, abgerufen am 23. Juli 2021 – im ersten Halbjahr dieses Jahres 507.212 Menschen. Das allein sagt noch nicht viel aus, denn offenbar macht es einen beträchtlichen Unterschied, wie die verschiedenen Altersgruppen innerhalb einer Bevölkerung verteilt sind: Im Falle einer gealterten Bevölkerung wird man in der Regel mit einer höheren Anzahl von Todesfällen zu rechnen haben als bei einer jüngeren. Es ist deshalb wichtig, auch die demographische Struktur zu berücksichtigen, bevor man verschiedene Jahre im Hinblick auf ihre Sterbedaten miteinander vergleichen kann. Das ist aber problemlos machbar. Den angegebenen Quellen kann man sowohl die Verteilung der Bevölkerung verschiedener Jahre auf verschiedene Altersgruppen als auch die Anzahl der Todesfälle innerhalb der Altersgruppen entnehmen. So gab es – um ein Beispiel zu nennen – im Jahr 2006 in der Altersgruppe „55 bis unter 60 Jahre“ 4.853.457 Einwohner. Davon sind im Verlauf der ersten sechs Monate dieses Jahres 15.523 Menschen gestorben, das sind 0,32 Prozent. Auf diese Weise kann man jedes Jahr und jede Altersgruppe behandeln und erhält insgesamt die folgende Tabelle, in der die Sterblichkeitsraten der Jahre 2006 bis 2021 aufgelistet sind, bezogen jeweils auf das erste Halbjahr und aufgeteilt nach Altersgruppen.
Im ersten Halbjahr 2016 sind also beispielsweise – auf drei Stellen nach dem Komma gerundet – 0,297 Prozent der Altersklasse „55 bis unter 60“ verstorben.
Nun kennen wir aber die demographische Verteilung der Bevölkerung zu Beginn des Jahres 2021, die man beim Statistischen Bundesamt abrufen kann. Nehmen wir wieder die gerade erwähnte Altersklasse „55 bis unter 60“, so bestand sie Anfang 2021 aus 6.817.318 Menschen. Würden daher 2021 die gleichen Sterblichkeitsraten wie 2016 vorliegen, müsste man also erwarten, dass 0,297 Prozent von 6.817.318 Menschen im Verlauf der ersten sechs Monate des Jahres 2021 gestorben sind. Bei einer höheren Stellenzahl des Prozentsatzes ergibt das 20.241 errechnete Todesfälle, die im Jahr 2021 der Sterberate des Jahres 2016 entsprechen. Offenbar kann man diese Rechnung für jedes Jahr und jede Altersgruppe durchführen und findet somit die Anzahl der Sterbefälle, die sich 2021 bei Vorliegen der jeweiligen Sterberaten der vorhergehenden Jahre ergeben hätten. Das Resultat zeigt die folgende Tabelle.
Hätte sich also das Sterbegeschehen im ersten Halbjahr 2021 – bezogen auf die Bevölkerung von 2021 – nach den Sterberaten des Jahres 2016 entwickelt, so wäre man zu 506.266 Todesfällen gekommen, unter Verwendung der Sterberaten von 2011 wären es 510.842. Auf diese Weise ist die demographische Entwicklung mit einberechnet, und die verschiedenen Todesfallzahlen werden vergleichbar.
Tatsächlich gestorben sind 2021 im ersten Halbjahr 507.212 Menschen. In der Reihe der oben angeführten demographisch normierten Sterbefallzahlen waren nur vier Jahre milder und elf Jahre härter, teilweise deutlich härter – nicht unbedingt ein Indiz für Übersterblichkeit. Betrachtet man zum Vergleich nur, wie es oft gemacht wird, die vorhergehenden fünf Jahre 2016 bis 2020, so weisen sie einen Durchschnitt der demographisch normierten Sterbefallzahlen von 512.599 auf, sodass der tatsächliche Wert für 2021 etwas unter dem Durchschnitt liegt. Wer Freude daran hat, kann das als eine Untersterblichkeit in der Höhe von etwa einem Prozent deuten, doch eine derart geringe Schwankung ist ohne Aussagekraft. Man kann aber auch die Werte für 2016 bis 2020 der Größe nach ordnen und dann den in der Mitte liegenden Wert als Mittelwert betrachten, das ist dann der sogenannte Median. Er liegt hier bei 506.266, und die Differenz kann jeder, der es will, als Übersterblichkeit in Höhe von knapp 0,2 Prozent interpretieren, was genauso wenig Sinn ergibt wie die vorherige Deutung als Untersterblichkeit. Bezogen auf die Jahre 2016 bis 2020 war das erste Halbjahr 2021 nichts weiter als durchschnittlich, ohne jede Auffälligkeit, bezogen auf den längeren Zeitraum ab 2006 war es sogar eher milde.
Das ändert sich, wenn man den Fokus auf die einzelnen Monate legt. Derart kurze Zeiträume zu verwenden, ist eben wegen ihrer Kürze nicht unbedingt aussagekräftig, es sei denn, man möchte überprüfen, ob extreme Ausreißermonate vorlagen. Zu diesem Zweck muss man die beschriebene Prozedur für jeden Monat von Januar bis Juni in jedem Jahr von 2006 bis 2020 durchführen, doch es wäre nur wenig zielführend, die dabei auftretenden Werte im Einzelnen aufzuführen; die Ergebnisse genügen vollauf.
In den beiden Tabellen sind die durchschnittlichen Sterblichkeiten in den Monaten Januar bis Juni der Jahre 2006 bis 2020 bzw. der Jahre 2016 bis 2020 aufgelistet – wieder berechnet unter Berücksichtigung der jeweiligen Sterberaten und der Bevölkerungsstruktur von 2021 – , gefolgt von den entsprechenden Daten für 2021. Das Bild ist in beiden Fällen gleich. Der Januar 2021 war offenbar ein überdurchschnittlich harter Monat, wenn auch kein extremer Ausreißer, denn ein Blick auf die Einzeldaten der Monatssterblichkeiten zeigt, dass der Januar 2017 ähnlich war, während Januar 2009 und März 2018 deutlich schlechtere Werte aufweisen. Von Lockdowns und massiven Grundrechtseinschränkungen hat man in diesen Zeiten allerdings nichts gehört. Auf den harten Januar 2021 folgten die ungewöhnlich milden Monate Februar und März, bis dann im Lauf des Aprils wieder eine Annäherung an die Mittelwerte eintritt. Im Januar hat es daher ungewöhnlich viele Todesfälle gegeben, in den darauf folgenden Monaten allerdings außerordentlich wenige, was insgesamt die höhere Januarzahl ausgleicht und zu dem milden bis durchschnittlichen Verlauf für die ersten sechs Monate des Jahres 2021 führt.
Dass die hohe Januarzahl unter anderem auf Covid-19 zurückzuführen ist, wird man kaum bestreiten wollen. Aber woher kommt der plötzliche Abfall, der im Februar eintritt? Lag es an den Maßnahmen? Wohl kaum, denn erstens hat man schon im November 2020 angefangen, die Bevölkerung wieder mit Lockdowns zu traktieren, und es ist schwer einzusehen, worauf eine dreimonatige Wirkungsverzögerung bis Anfang Februar beruhen sollte. Und zweitens zeigen die schwedischen Daten für die ersten Monate des Jahres 2021 ein ganz ähnliches Bild: hohe Zahlen im Januar, ein starker Abfall ab Februar. Dort hat es aber nur moderate Maßnahmen gegeben, von Lockdowns und Maskenpflicht war und ist man weit entfernt.
Lag es am Fortschritt der Impfungen? Wohl kaum. Der schon früher bemühten Plattform „Our World in Data“ kann man entnehmen, dass Anfang Februar gerade 2,4 Prozent der deutschen Bevölkerung mindestens eine Impfdosis erhalten hatten, Anfang März waren es 5,1 Prozent und Anfang April 12,1 Prozent; man erinnert sich vielleicht noch an die Glanzleistungen der Regierung bei der Impfstoffbeschaffung. Dass ein Virus in seiner Wirkung Rücksicht auf Impfungen nehmen sollte, die noch gar nicht stattgefunden haben, mag man vielleicht in Kreisen von Politikern und Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks glauben, plausibel ist es nicht.
Es bleibt eine weitere mögliche Erklärung: Die über dem Durchschnitt liegende Zahl der Januartoten und der starke Abfall der Sterbezahlen ab Februar könnte daran liegen, dass Sterbefälle, die ohne SARS-CoV-2 sonst in der Zeit von Februar bis März oder April stattgefunden hätten, wegen Covid-19 bereits im Januar zu verzeichnen waren. In diesem Fall liegt die durch das Virus verlorene Lebenszeit der Verstorbenen eben nicht, wie es das RKI behauptet, bei etwa neun Jahren, sondern bei zwei bis drei Monaten – ein Wert, den bereits der Mathematiker Günter Eder mit etwas anderen Methoden berechnet hat.
Nun kann man einwenden, dass es bei Krankheiten nicht nur Sterbefälle gibt, sondern auch Erkrankte, die die Krankheit überleben. Das stimmt. Tatsächlich kann es von Interesse sein, einmal die allgemeinen Krankenstände der vergangenen Jahre zu betrachten und sie mit den Krankenständen der Pandemiejahre 2020 und 2021 zu vergleichen. Man findet diese Daten beispielsweise beim Statistischen Landesamt Baden-Württemberg, wo die Krankenstände der gesetzlichen Krankenkassen sowohl für Baden-Württemberg als auch für ganz Deutschland aufgeführt werden. Dabei ist der Krankenstand „aus der Zahl der arbeitsunfähigen, krankengeldberechtigten Mitglieder, dividiert durch die Zahl der krankengeldberechtigten Mitglieder zu bilden“. Seit 2016 liegt der jährliche bundesweite Krankenstand über vier Prozent. Im Jahr 2016 waren es, um genau zu sein, 4,3 Prozent, 2017 hatte man 4,2 Prozent, im Jahr 2018 wieder 4,3 Prozent, woran sich die 4,4 Prozent von 2019 und die neuerlichen 4,3 Prozent von 2020 anschlossen. Nicht vergessen: 2020 war ein Pandemiejahr, doch im Krankenstand der arbeitenden Bevölkerung ist nicht viel davon zu bemerken.
Auch monatsgenaue Zahlen liegen vor; in der folgenden Tabelle sind die Spannweiten der Krankenstände für die Monate Januar bis Juni und die Jahre 2016 bis 2021 angegeben.
Hier fällt vor allem eines auf: Im ersten Halbjahr 2021 gab es nie hohe Krankenstände über sechs Prozent, nicht einmal über fünf. Und selbst der Höchststand von 6,5 Prozent im April des Pandemiejahres 2020 wird vom Grippemonat März 2018 mit 7,0 Prozent überboten. Es sieht nicht danach aus, als hätte es in Bezug auf den Krankenstand jemals eine Überlastung des Gesundheitssystems gegeben.
Die Resultate sind leicht zusammenzufassen. Weder im Jahr 2020 noch im ersten Halbjahr 2021 lässt sich für Deutschland eine Übersterblichkeit feststellen, sofern man die demographische Entwicklung berücksichtigt. Die Krankenstände weisen keine ungewöhnlichen Höhen auf. Und seit geraumer Zeit wissen wir, nicht zuletzt durch die Tätigkeit des Bundesrechnungshofes, dass es auch auf den Intensivstationen keine Überlastung gegeben hat, die über das im Winter übliche Maß nennenswert hinausging.
Es wäre eine Illusion zu glauben, dass solche Ergebnisse irgendeinen Einfluss auf Politikdarsteller wie Karl Lyssenko Lauterbach, Markus Nostradamus Söder oder gar auf die bestberatene Bundeskanzlerin aller Zeiten haben könnten. Man hat kein Interesse daran, den Panikmodus zu verlassen, an den man sich so sehr gewöhnt hat und der den Weg hin zu weiteren verfassungswidrigen Freiheits- und Grundrechtsberaubungen ebnen wird, den man im Namen des Klimaschutzes so gerne beschreiten möchte. „Für mich denkt Stalin“, war die Antwort Egon Erwin Kischs auf die Frage nach seiner Meinung zum Hitler-Stalin-Pakt. Jeder muss sich fragen, ob er sich auf betreutes Denken einlassen oder es lieber mit eigenen Gedanken versuchen will.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Text: Gast