Sehen Sie hier mein Video von der heutigen Bundespressekonferenz; in voller Länge sehen Sie die Veranstaltung hier.
Bei zahlreichen Gelegenheiten geht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit einer Zahl hausieren, die beeindruckend klingt: 95 Prozent der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen seien ungeimpft, so der Christdemokrat. Unter anderem antwortete er damit vergangene Woche auf meine Frage bei der Bundespressekonferenz, ob es nicht irreführend sei, die Inzidenz von Ungeimpften, die sich ständig testen lassen müssen, mit der vom Geimpften zu vergleichen, die kaum getestet werden (siehe meinen Beitrag hier).
In einem Youtube-Video stellt ein Student die Zahlen in Frage – mit einer Begründung, die zumindest auf den ersten Blick nicht ganz von der Hand zu weisen ist (anzusehen hier). Seine Haupt-Argumentation zusammengefasst: Die Geimpften werden nicht getestet, und wenn sie getestet werden, gelten sie nur dann als COVID-19-Fall, wenn sie auch wirklich an COVID-19 erkranken. Während Ungeimpfte mit positivem Test allesamt als COVID-19-Patienten gezählt werden.
Da ich weder Arzt noch Statistiker bin und auch nicht über die entsprechenden Zahlen verfüge, stellte ich heute bei der Bundespressekonferenz online die diesbezüglichen Fragen: „Laut Minister Spahn sind 95 Prozent der COVID-19-Intensivpatienten ungeimpft. Könnten Sie genau erläutern, wie da gezählt wird? Sind das nur Patienten, die dort WEGEN Corona sind, oder auch solche, die wegen anderer Krankheiten dort sind, aber positiv getestet? Werden Geimpfte auf Intensivstationen auch standardmäßig getestet? Und wenn ja: Geht jeder positiv Getestete als Covid-Fall in die Statistik ein, oder nur Impfdurchbrüche?“
Verlesen wurden nur die ersten beiden Teilfragen – was auch nachvollziehbar ist, da es ja sonst strenggenommen vier Fragen gewesen wären.
Spahns Sprecher Deffner antwortete: „Wir haben ja eine Meldeverordnung, die schon früh im Laufe des Jahres in Kraft getreten ist, nach der die Krankenhäuser verpflichtet sind, bei Krankenhausaufnahme und im weiteren Verlauf, wenn jemand auf die Intensivstation gebracht werden muss, den Impfstatus zu melden. Das läuft über die Gesundheitsämter ans RKI. Das RKI bereitet diese Daten auf. Daher kommt die Zahl 95 Prozent.“
Offen gestanden wurde ich daraus nicht schlau, aber vielleicht liegt das an schlechter Auffassungsgabe meinerseits. Ich hakte noch einmal nach: „Werden auf den Intensivstationen auch Geimpfte getestet?“
Antwort Deffner: „Ich kann diese Frage nicht konkret beantworten. Aber ich gehe sehr fest davon aus, dass Geimpfte auf Intensivstationen nicht mehr getestet werden.“
Wenn dem so wäre, könnte das die genannten 95 Prozent massiv in Frage stellen – in Abhängigkeit davon, ob bei den Ungeimpften auch diejenigen mitgezählt werden, die nicht wegen, sondern mit Corona auf der Intensivstation sind.
Um das aufzuklären, schrieb ich die oben bereits aufgeführten Fragen an das Robert-Koch-Institut. Das antwortete auch vorbildlich schnell. Allerdings wurde ich auch aus der Antwort der Behörde nicht schlau. Vielleicht geht es Ihnen anders. Hier die Antwort:
Sehr geehrter Herr Reitschuster,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Die Meldepflicht zu Hospitalisierungen betrifft Hospitalisierung in Bezug zu Covid. Wir gehen davon aus, dass die Kliniken das weitestgehend korrekt umsetzen. Im Einzelfall kann es in dem Krankenhaus aber auch mal schwer abzugrenzen sein, da die Übergänge fließend sind. Da können sicher die Kliniken am besten weiterhelfen, auch bei Ihrer zweiten Frage.
Zu den Impfdurchbrüchen noch folgende Information: Die klinischen Studien waren darauf ausgerichtet, dass COVID-19 (die Erkrankung) und natürlich insbesondere schwere Verläufe verhindert werden. Deshalb berichten wir aus den RKI-Daten entsprechend. Im Wochenbericht setzen wir symptomatische (!) COVID-19-Fälle in Relation zu den geimpften, symptomatischen (!) COVID-19 Fällen.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Xxxx xxxxxx
Ich kann daraus die entscheidenden Angaben nicht herauslesen. Sehr wohl aber ist herauszulesen, dass der Schwarze Peter an die Kliniken weitergegeben wird. Und damit bleibt zumindest der Verdacht bestehen, dass Minister Spahn und das Institut mit ihrer Angabe, 95 Prozent der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen seien ungeimpft, mogeln. Wenn das RKI sie nicht untermauern kann und zum „weiterhelfen“ auf die Kliniken verweisen muss. Zumindest ist es merkwürdig, dass weder der Sprecher des Ministers noch seine oberste Bundesbehörde Angaben machen (können), die seine Aussagen einwandfrei belegen und die bestehenden Zweifel ausräumen.
Eine weitere Online-Frage von mir wurde in meinen Augen ebenfalls nicht bzw. nur ausweichend beantwortet. Sie lautete: „Nach einer Aussage des Europadirektors der WHO, Hans Kluge, der vor zu großen Erwartungen an eine hohe Impfrate als Ausweg aus der Pandemie gewarnt hat, sei durch die Verbreitung neuer Virusvarianten mit höherer Übertragbarkeit, wie der Deltavariante, das Ziel einer Bevölkerungsimmunität kaum noch zu erreichen.
Sehen Sie das auch so?
Welche Folgen hat das für die Impfstrategie?“
Spahn-Sprecher Deffner: „Ich kenne diese Aussage von Herrn Kluge nicht. Deswegen kann ich sie jetzt nur schlecht kommentieren. Wir gehen nach wie vor davon aus, dass Impfen der beste Weg ist, um jetzt zunächst einmal gut über den Herbst und Winter zu kommen und auch den Ausweg aus der Pandemie insgesamt hinzubekommen.
Vielleicht noch als Ergänzung: Die WHO hat ja erst vor einigen Tagen hier in Berlin den neuen Pandemie-HUB, so nenne ich es jetzt einmal, ins Leben gerufen. Das wird sicherlich auch langfristig sehr viel zur Pandemievorbeugung und -bekämpfung beitragen.“
Die Vorsitzende hakte nach: „Sie meinen sicher einen Anti-Pandemie-HUB?“
Deffner: „Ja.“
Seibert: „Auch ich kenne diese Äußerung des WHO-Direktors nicht. Aber es liegt in der Logik der Sache, dass eine Variante wie die Deltavariante, die so deutlich ansteckender ist als die vorherigen Varianten, auch dazu führt, dass man eine höhere Impfquote braucht, um das Virus unter Kontrolle zu bekommen. Deswegen ist es so sinnvoll, wirklich jeder Impfung, so will ich es einmal sagen, nachzulaufen, also zu versuchen, so viele Menschen wie möglich zum Impfen zu bewegen, davon zu überzeugen und es ihnen auch leicht zu machen.
Wir haben bisher das große Glück, dass die existierenden Impfstoffe wirksam sind, dass sie ihre Wirksamkeit auch gegen die Deltavariante nicht verloren haben, sondern eine hohe Wirksamkeit besitzen. Schon deswegen, damit das so bleibt, sollten wir versuchen, eine sehr hohe Impfquote zu erreichen, eine höhere, als wir sie jetzt haben, bevor möglicherweise, das muss nicht passieren, aber es kann natürlich immer passieren, eine Variante des Virus daherkommt, die die Impfstoffe auf eine noch ganz andere Probe stellt.“
Böse, ja polemisch könnte man sagen: Die nächste, noch gefährlichere Variante wird angekündigt. Aber so eine Bemerkung wäre nicht sachlich, und künftig könnte ja Sachlichkeit Voraussetzung für die Berechtigung zur Teilnahme an den Bundespressekonferenzen werden.
Bemerkenswert an der Bundespressekonferenz war, dass erneut fast die Hälfte der Zeit das Thema Afghanistan und insbesondere Ortskräfte und deren Auswandern nach Deutschland im Mittelpunkt standen. So wichtig das Thema sein mag – dass es nun schon seit langer Zeit die Bundespressekonferenz regelrecht beherrscht, während andere Themen wie Corona oft deutlich weniger im Mittelpunkt stehen, halte ich für bemerkenswert. Die große Frage ist hier, inwieweit die Interessen-Schwerpunkte von Journalisten und einem großen Teil der Bevölkerung übereinstimmen oder auseinandergehen. Mehr dazu in meinem Video von der heutigen Bundespressekonferenz hier.
Bild: Ekaterina Quehl/RTL
Text: br