Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger
„Mögest du in interessanten Zeiten leben“ lautet ein chinesischer Fluch, der seinem Adressaten Ärgernisse und unruhige Lebensumstände an den Hals wünscht. Ich habe mir nie interessante Zeiten dieser Art gewünscht, ganz im Gegenteil, ich schätze solche Zeiten, in denen man zu jeder beliebigen Uhrzeit an jedem beliebigen Ort – wenn es sich nicht gerade um Privatbesitz oder militärisches Sperrgebiet handelt – in Ruhe und Frieden spazieren gehen kann.
Zu meinem Bedauern muss ich feststellen, dass solche unglaublichen Handlungsweisen heute als unerlaubt gelten, als verbotene Versammlung, die offenbar dazu angetan ist, die staatliche Ordnung, die man in alten Zeiten gerne als die Ordnung eines freiheitlichen Rechtsstaates bezeichnet hat, zu untergraben und größtes Unheil heraufzubeschwören.
Man stelle sich vor: Zwei unbescholtene Menschen, friedlich und noch immer ein wenig mit den Folgen des Weihnachtsessens kämpfend, entschließen sich zu einem Spaziergang durch die Fußgängerzone, vorwiegend nach Einbruch der Dunkelheit, um das schlechte Wetter nicht so genau zu sehen.
Auf dem Marktplatz finden sie eine erstaunliche Situation vor: Mehrere Hundert Menschen stehen dort und singen, allem Anschein nach schon seit einer Weile. Im Moment der Ankunft erscheinen noch einige andere Marktplatzbesucher, allerdings in Uniform und offenbar auf der Suche nach ihren Kollegen, die man – es ist immerhin dunkel – nach etwas Herumsuchen auch erblicken kann; Polizeiwagen sind ebenso zu sehen.
Offenbar ist während des Singens noch nichts geschehen, sonst würden die Sänger nicht einfach so weitersingen und die uniformierten Beobachter nicht einfach nur herumstehen. Kaum dass die beiden erwähnten Spaziergänger den musikalisch verschönten Marktplatz erreicht haben, hat der Gesang auch schon ein Ende. Und die schlichte Logik sagt den meisten Menschen – vermutlich mit Ausnahme von Politikern und Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks –, dass mehrere hundert Menschen, die irgendwo unbehelligt herumstehen, um dann aufzubrechen, sich zwangsläufig in eine Gruppe von mehreren hundert Menschen verwandeln, die irgendwohin gehen. Schadet nichts, so denken sich die beiden Spaziergänger, wir wollen ja in die gleiche Richtung.
Doch gleichzeitig mit dem friedlichen Aufbruch – längst nicht von allen auf einmal, sondern in aller Gemütlichkeit, ohne Pulkbildung und erst recht ohne Geschrei – hört man gerade noch eine viel zu leise Durchsage, die mitteilt, es handle sich um eine nicht erlaubte Versammlung, und vermutlich auch noch manches mehr, aber erstens ist es ohnehin zu leise und zweitens sind die Menschen einschließlich der beiden Spaziergänger schon im Aufbruch begriffen, und keine Polizei der Welt hat es etwas anzugehen, wohin sich die Leute bewegen, solange sie das friedlich tun.
Aber so ist das nun einmal im besten Deutschland, das es je gab: Sobald sich die Gruppe von Sängern, Zuhörern und sonstigen Spaziergängern in Bewegung setzt, ruft man ihr zu, sie sei eine ungenehmigte Versammlung, die sich gefälligst aufzulösen habe. Wie soll das gehen, fragen sich die Spaziergänger, wenn man die Leute nicht gehen lässt? Schließlich kann kein Polizist voraussehen, in welche Richtung sich diese Menschen bewegen werden, mit welchen Absichten und mit welchem Benehmen. In Zeiten, die nicht so interessant waren wie die heutigen, gab es ein Prinzip mit dem Namen Unschuldsvermutung, das inzwischen offenbar aus der Mode gekommen ist.
Um die Geschichte nicht so ausufern zu lassen wie die deutsche Politik: Kurz nach dem allgemeinen Aufbruch sieht man Polizeikräfte an den Spaziergängern vorbeitraben, und nach wenigen Minuten hat sich irgendwo in der Fußgängerzone eine freundliche Polizeisperre gebildet, denn man kann ja das Einhalten von Abständen am besten gewährleisten, indem man die Menschen auf möglichst engem Raum zusammentreibt.
Glücklicherweise besteht die von den gefährlichen Spaziergängern heimgesuchte Fußgängerzone nicht nur aus einer Straße, sondern zusätzlich aus mehreren Gassen, die man nur unter Schwierigkeiten alle abriegeln kann, und natürlich drehen etliche Spaziergänger bei, um sich durch eine oder mehrere dieser Gassen zu bewegen.
Eine dieser Gassen, durch die es auch die beiden schon erwähnten Spaziergänger versuchen, ist selbstverständlich bereits abgeriegelt, und der Versuch, sich – wie man es in einem einstmals freien Land erstaunlicherweise immer noch gewöhnt ist – einfach nach Hause zu begeben, wird unter heftiger Aggression vonseiten der einen oder anderen Einsatzkraft vereitelt, einzelne Spaziergänger werden nicht mehr nur geschubst, sondern gestoßen, der Einsatz von Gewalt ist sehr einseitig, und sie geht nicht von den Spaziergängern aus.
Nun gut, man will ja diesem Irrsinn irgendwann entkommen und versucht eine andere Seitengasse, die ist ebenfalls gesperrt, und die freundlichen Reaktionen der Polizeikräfte auf die verbalen Versuche, die Einkesselung zu vermeiden, gehen so weit, dass ein spontaner Chor zum ersten Mal laut und deutlich „Keine Gewalt, keine Gewalt!“ ruft. Die Sicherheitskräfte des freiheitlichen Rechtsstaates zeigen sich wenig beeindruckt.
Da aber in dieser Gegend wohl nicht ganz so viele Einsatzkräfte zur Verfügung stehen wie anderswo, findet sich doch noch eine Möglichkeit, auf einem anderen Weg den Schauplatz des angeordneten Wahnsinns zu verlassen; die Polizisten können nicht überall sein.
Aber wie seltsam: Bisher sich völlig fremde Menschen sprechen miteinander, tauschen ihr Entsetzen aus über die miterlebten polizeilichen Methoden, und auch wer eigentlich nur zum Spazierengehen da war und nach Hause möchte, stellt fest, dass es auch noch andere Dinge zu tun gibt. Natürlich ist die ursprüngliche Gruppe von vielleicht fünfhundert Leuten inzwischen weit versprengt und verteilt über die gesamte verwinkelte Fußgängerzone, vermutlich sind auch viele nach Hause gegangen, sobald sie eine Gasse gefunden haben, die der freiheitliche Rechtsstaat nicht bewachte.
Doch eine kleine Gruppe von Spaziergängern, die sich noch nie zuvor gesehen haben, bricht noch einmal auf in Richtung Marktplatz, wo sich ein interessantes Bild bietet. An Spaziergängern mangelt es dort inzwischen, nicht aber an Polizeiwagen, zehn oder zwölf an der Zahl. Und da sie nun schon einmal da sind, will man sie ja auch zum Einsatz bringen, indem man mit drei Einsatzwagen den Zugang zum Marktplatz sperrt.
Beeindruckend, wie sie da stehen, die Wagen und ihre uniformierten Bewacher, die den stark gefährdeten Marktplatz vor dem Zutritt von ein paar Dutzend verbliebenen Spaziergängern schützen. Sicher, so rettet man die Intensivstationen vor der Überfüllung.
Danach geschieht äußerlich nicht mehr viel. Innerlich schon. Wer bis jetzt noch an die freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung dieses Landes geglaubt hat, wurde eines Besseren belehrt. Diesen Glauben dürfte er verloren haben. Noch vor wenigen Tagen hatte ich geschrieben, der Weg ins Dunkle sei schon sehr weit fortgeschritten. Das war zu optimistisch.
Wir sind mitten im Dunklen.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Text: Gast