Immer, wenn man denkt, der ganze Wahnsinn könne nicht mehr gesteigert werden, wird man eines Besseren belehrt. Im Münchner Merkur, für den ich viele Jahre geschrieben habe und den ich früher sehr schätzte, erschien jetzt ein Beitrag mit der Überschrift: „Montagsspaziergänge in Bayern: Schluss mit dem Grundrechte-Geschwurbel“. Als ich die Mail mit dem Link von einem empörten Leser bekam, traute ich erst meinen Augen nicht.
Leider gehört es zu meinem Beruf, mich durch solche Texte zu quälen. Auch, wenn es leider nicht vergnügungssteuerpflichtig ist. Der Kommentar von Redaktionsleiter Hans Moritz, einem, dem Bild nach zu urteilen, strammen jungen Karriere-Journalisten, liest sich wie aus einem Parallel-Universum. Im Vorspann steht: „Es ist schon abenteuerlich, wie bei den Montagsspaziergängen das Grundgesetz gedehnt wird.“ Wer sich auf die Versammlungsfreiheit, eines der unveräußerlichen Grundrechte, beruft, und darauf, dass laut führenden Aerosol-Experten im Freien keine Ansteckungsgefahr besteht, „dehnt“ also das Grundgesetz? Wirklich?
Weiter negiert Moritz dann seinerseits in abenteuerlicher, aber leider typischer Weise die Realität: „Der Grundrechtsgedanke wird schon arg überdehnt. Ein Eingriff findet eben nicht statt.“ Man kann für die Maßnahmen sein, gegen die Maßnahmen – aber zu schreiben, ein Eingriff finde nicht statt, ist einfach entweder eine dreiste Lüge oder totale Realitätsverweigerung.
Weiter dann eine typische Argumentationsfalle, wenn die Argumente ausgehen: „Dazu gehört auch, auf den Demos Journalisten unbehelligt ihre Arbeit machen zu lassen und sie nicht zu behindern, wie am Montag geschehen. Auch die Pressefreiheit ist eines der viel beschworenen Grundrechte.“ Klar. Wer hat jemals etwas anderes behauptet? Und ich bin sicher, bis auf einzelne Radikale sehen das alle auf den Kundgebungen genauso.
Sodann schreibt Moritz: „Viele Marschierer erklären, dass gegen einen Spaziergang doch nichts einzuwenden sei und man ja wohl seine Meinung kundtun dürfe. Ja, darf man, allerdings sollten sie wissen, wer (auch) hinter dem Phänomen der Montagsdemos steht: unter anderem Mitglieder eindeutig rechtsradikaler Gruppierungen wie der Dritte Weg, getragen von Neonazis.“ Weiß Moritz, dass es bei den Demonstrationen gegen das DDR-Regime das gleiche Framing gab – sie als „von Rechtsextremen unterwandert“ hinzustellen?
„Wenn die ‘Spaziergänger‘ schon so auf die Verfassung pochen, warum melden sie dann nicht einfach eine Kundgebung an und benennen einen Versammlungsleiter? Das Grundgesetz nimmt auch den Bürger in die Pflicht“, schreibt Moritz weiter. Ich finde keine entsprechende Stelle im Grundgesetz in Sachen Versammlungsrecht. Hat Herr Moritz ein anderes Grundgesetz vorliegen. Und vor allem: Warum ignoriert er, dass die Spaziergänge insbesondere deshalb als Form gewählt werden, Versammlungen reihenweise verboten werden?
Der Kommentar von Moritz wird für künftige Historiker ein Zeitdokument sein, anhand dessen sie studieren können, wie Journalisten im selbsternannten „besten Deutschland aller Zeiten“ wieder einmal genau das taten, was Journalisten nie tun dürfen: sich zu braven Erfüllungsgehilfen des Staates machen, zu einer Art Streitaxt der Regierung gegen Kritiker. Wie sie, statt die Regierung zu kontrollieren, versuchten, die Regierten zu kontrollieren.
Dabei gibt es solche Zeitdokumente heute schon in großer Anzahl. Etwa einen Tweet von SWR-Chefredakteur Fritz Frey, in dem der gebührenfinanzierte Journalist an Weihnachten schrieb:
Ein Zitat, das wohl nicht nur meine Gefühlslage 2021 trifft: „Ich sehe meine Rechte nicht beschränkt oder bedroht. Ich sehe mich bedroht durch Rechte und Beschränkte. Lieber glaube ich Wissenschaftlern, die sich auch mal irren, als Irren die glauben sie seien Wissenschaftler.“
Auch hier Realitätsverweigerung – eine Beschränkung von Rechten zu negieren, ist schlicht absurd. Aber schlimmer noch: Die Aussagen des SWR-Manns erinnern an das, was der kommunistische Schriftsteller Umberto Eco als Ur-Faschismus bezeichnete. In seinem Essay „14 Kennzeichen des ewigen Faschismus“ nannte er warnend und mahnend unter Punkt 4 und 5:
4. Ablehnung der analytischen Kritik: Wenn die Wissenschaft mangelnde Übereinstimmung als nützlich ansieht, ist es für den Ur-Faschismus Verrat.
5. Ablehnung von Meinungsvielfalt und Pluralismus: Die natürliche Angst vor Unterschieden wird ausgebeutet und verschärft. Der erste Appell des Faschismus oder Vorfaschismus richtet sich gegen Eindringlinge.
Viele Kollegen merken offenbar gar nicht mehr, wie sehr sie sich in Denken und Schreiben der Sprache und dem Denken autoritärer Systeme angepasst haben. Nehmen Sie diesen Satz des Spiegel über Hans-Georg Maaßen: „Der seit Langem umstrittene Maaßen hatte bei Twitter impfkritische Äußerungen verbreitet, was zu Forderungen nach seinem Ausschluss aus der CDU führte.“ Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Verbreitung von „impfkritischen Äußerungen“. In jeder funktionierenden Demokratie käme erstens niemand auf die Idee, Kritik an einer bestimmten Impfung so zu nennen. Und zweitens würde niemand deswegen einen Parteiausschluss fordern.
Tennis-Star Novak Djokovic wurde in der deutschen Presse gar zum „mutmaßlich Ungeimpften“. Mit solchen Formulierungen werden in der Regel Straftäter bedacht. Nimmt man da noch „gefährliche Sozialschmarotzer“ (FDP-Politiker Rainer Stinner) und „rechter Blinddarm“ (ZDF-Komikerin Sarah Bosetti) hinzu, führt kein Weg mehr an der Erkenntnis vorbei, dass hier genau jene verbale Gifttruhe geöffnet wurde, die uns in der Geschichte wiederholt in Abgründe führte.
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