Es ist erstaunlich, wie sich aktuell in der Diskussion über das Corona-Virus und die Maßnahmen dagegen die Grenzen verschieben. Was jetzt der Bundestagsvizepräsident und stellvertretende Vorsitzende der Regierungspartei FDP auf Facebook schrieb, wäre noch vor kurzem als „Ketzerei“ auf heftigen Widerstand gestoßen. Auch heute werden einige fanatische Anhänger der „Null-Covid-Strategie“ vielleicht noch mit Aggression und Diffamierung auf die Aussage des Liberalen reagieren – aber dass sie keinen großen Aufschrei in Medien und Politik mehr verursacht, ist zumindest ein zaghaftes Indiz für einen sich anbahnenden Stimmungswechsel.
„Es war immer das verfassungsrechtlich begründete Ziel der Corona-Maßnahmen, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern“, schreibt der Bundestagsvizepräsident auf seiner Seite in dem sozialen Netzwerk: „Es ist schon aus rechtlichen Erwägungen mindestens zweifelhaft, zu einem Zeitpunkt, an dem dieser Überlastungszustand offensichtlich nicht mehr droht, das politische Ziel plötzlich zu ändern.“ So weit, so gut. Doch dann teilt Kubicki richtig aus – mit einer Aussage, die in dieser Form bisher als „Verschwörungstheorie“ verleumdet worden wäre: „Wer die Begründung für massive Grundrechtseinschränkungen nach eigenem Gutdünken einfach zu ändern meint, der muss sich die Frage stellen lassen, ob er keinen Normalzustand, sondern einen langanhaltenden Notstand will.“
Spiel, Satz und Sieg. Kubicki hat damit den Gesundheitsminister, mit dem seine Partei in einer Regierung sitzt, und seine Adlaten bloßgestellt – und wenn das vom Vize-Chef der Regierungspartei kommt, hat es eben noch einmal ein anderes Gewicht als von der Opposition (wobei man die CDU in Sachen Corona gar nicht mehr als solche bezeichnen kann, sie wirkt da eher wie eine Büchsenspanner-Truppe der Regierung.) Das Fazit von Kubicki: „Spätestens nach dem Omikron-Höhepunkt, der in der kommenden Woche erwartet wird, muss nicht nur über Lockerungen gesprochen werden, sondern über eine Rücknahme der Maßnahmen überhaupt. Denn eine verfassungsrechtlich tragfähige Basis für Grundrechtseinschränkungen gibt es spätestens jetzt nicht mehr.“
Das sitzt. Kubicki sprach zwar bisher schon deutlich die Verrenkungen und Absurditäten des deutschen Corona-Sonderwegs aus. So deutlich war er aber bisher noch nicht. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aber man darf auch kleine Hoffnungsstreifen am Horizont als solche benennen. Ja, man muss es sogar in Zeiten wie diesen, in denen es schwer genug fällt, nicht den Glauben an die Menschheit im Allgemeinen, ihren deutschen Teil im Besonderen und Politik und Medien im Speziellen zu verlieren.
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Text: br