Ein Gastbeitrag des „Subjektiven Studenten“
In einem Beschluss vom 10. Februar 2022 wies das Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag gegen die einrichtungsbezogene Impfnachweispflicht ab. Die Begründung fußt in erster Linie auf dem vermuteten Schutz durch Impfung vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 und Übertragung des Virus. So heißt es in dem Beschluss:
„Nach der weitgehend übereinstimmenden Einschätzung der angehörten sachkundigen Dritten ist zudem davon auszugehen, dass COVID-19-Impfungen einen relevanten – wenngleich mit der Zeit deutlich nachlassenden – Schutz vor einer Infektion auch mit der Omikronvariante des Virus bewirken.“
Weiter bestehe bei Aussetzung der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht eine erhöhte Gefahr, dass sich „die dort Tätigen infizieren und sie dann das Virus auf vulnerable Personen übertragen“ würden.
Man begründet also die Entscheidung mit einem vermuteten Fremdschutz, bezeichnet diesen als „relevant“ und rechtfertigt damit einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bzw. ein praktisches Berufsverbot für alle Betroffenen.
Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht unterstellt übrigens auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach der Impfung weiterhin ausdrücklich einen Fremdschutz, wenn er auf Twitter die Entscheidung des Gerichts kommentierte mit den Worten:
„Der Geimpfte trägt ein minimales Risiko der Nebenwirkung. Damit schützt er Ältere und Kranke, die ihm anvertraut sind, vor Tod und schwerer Krankheit.“
Die Sache scheint klar: Mit der Impfung infiziere man sich seltener und schütze somit wiederum insbesondere Kontaktpersonen aus vulnerablen Gruppen. Dessen scheinen sich sowohl der Gesundheitsminister als auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts ausreichend sicher zu sein, um dafür deutliche Grundrechtseinschränkungen für bestimmte Personengruppen in Kauf zu nehmen.
Aber ist die so zentrale Hypothese zum Fremdschutz, gerade in Zeiten von Omikron, wirklich belastbar? Auch auf reitschuster.de wurden bereits Artikel veröffentlicht, die sich kritisch mit der Fremdschutz-Hypothese befassen. Da sie jedoch wieder und wieder als Argument angeführt wird, sollte auch weiterhin und erneut dagegengehalten werden, wenn möglich mit immer neuen, besseren Argumenten. Das soll im Folgenden geschehen.
Zentral ist in der vorliegenden Analyse also nicht der Eigenschutz (Wie stark schütze ich mich mit einer Impfung vor einer Hospitalisierung mit COVID-19? Reduziere ich meine Wahrscheinlichkeit, auf der Intensivstation zu landen mit einer Impfung?). All dies sind interessante Fragen, die diskutiert werden können und sollten. Die vorwiegend entscheidende Frage ist hingegen zunächst, ob sich Geimpfte signifikant seltener anstecken als Ungeimpfte. Mangels groß angelegter, noch laufender Doppelblindstudien erscheint hierfür die Betrachtung der Inzidenzen innerhalb der jeweiligen Impfstatus-Gruppen als nächstbester Indikator. Da diese Daten in ihrer Aussagekraft offensichtlichen Limitationen unterliegen, ist es vorteilhaft, eine möglichst breite Datenlage zu sichten. Hierzu werden im Folgenden vier verschiedene europäische Länder untersucht.
Hätte das Gericht mit seiner Einschätzung recht und wäre der Fremdschutz signifikant, müsste man tatsächlich stark reduzierte Inzidenzen unter den Geimpften und massiv erhöhte Inzidenzen unter den ungeimpften Populationen beobachten.
Schauen wir uns hierzu zunächst die aktuellen Zahlen aus Deutschland an. In dem Wochenbericht des RKI vom 10.2.22 wird aktuell noch eine deutlich positive Impfeffektivität in Bezug auf symptomatische Infektionen ausgewiesen (wobei gleichwohl ohne Auffrischungsimpfung zeitweise schon die 50 %-Marke unterschritten wurde), wie folgende Abbildung zeigt:
Diese Daten vom RKI sind offensichtlichen Limitationen unterlegen:
Zum einen weist das RKI lediglich die symptomatischen Fälle aus und gibt nicht alle bestätigten Infektionen an. Wenn auch asymptomatisch positiv Getestete Andere anstecken können – und das ist die Position des RKI –, dann sollten auch die zugehörigen Fälle veröffentlicht werden, zumindest wenn daran der Fremdschutz eingeschätzt werden soll.
Zum anderen gelten in Deutschland immer noch einschneidende Maßnahmen wie 3G, die eine häufigere Testung der Ungeimpften sehr wahrscheinlich machen und so die Infektionsraten verzerren.
In einigen anderen europäischen Ländern dürften Verzerrungen dieser Art nicht im gleichen Ausmaß vorliegen. Wie sehen hier die Verhältnisse aus? Drei Beispiele:
Beginnen wir mit Dänemark:
Hier kann neuerdings regelmäßig aktualisiert die Inzidenz der verschiedenen Impfstatus-Gruppen nachvollzogen werden (alle Fälle ab 12 Jahren). Am 10.2.22 fanden sich hier folgende Inzidenzen (alle Fälle, also inkl. asymptomatische Positive):
Ganz links findet sich die Gruppe der Ungeimpften mit der Inzidenz von 744,4. Die Einmal-Geimpften weisen mit 640,1 die niedrigste Inzidenz auf. Die höchsten Inzidenzen finden sich hier bei den zweifach Geimpften (933,8), gefolgt von den Geboosterten (817,9). Dieses Diagramm sollte allein schon zur Irritation führen in Hinblick auf die oben aufgezeigte Begründung des Bundesverfassungsgerichts. Müssten nicht die Inzidenzen unter den Ungeimpften wesentlich höher sein? Vielleicht ein Einzelfall?
Schauen wir nach Schottland:
Hier finden wir in einer Veröffentlichung vom 9.2.22 des „Public Health Scotland“ folgende Tabelle:
Aufgezeigt sind in diesem Fall die altersstandardisierten Fallraten pro 100.000 Einwohner der jeweiligen Impfstatus-Gruppe (wie in Dänemark inkl. Asymptomatische). Auch hier ergibt sich ein ähnliches Bild. In der letzten Woche (jeweils grau) weisen die Ungeimpften mit einer altersstandardisierten Rate von 262,90 den besten (niedrigsten) Wert auf unter allen Impfstatus-Gruppen. Sowohl die zweifach Geimpften (470,30) als auch die Geboosterten (397,09) weisen höhere Infektionsraten auf. Auch hier lässt sich also keineswegs feststellen, dass die Impfung dazu beigetragen hätte, dass sich diese Geimpften seltener infizieren – ganz im Gegenteil.
Schauen wir uns zuletzt die aktuellen englischen Zahlen, veröffentlicht im „COVID-19 vaccine surveillance report“ vom 10.2.22, an. Hier finden wir folgende Tabelle zu den Infektionsraten:
Relevant sind hier in Bezug auf den Fremdschutz die erste und die zweite Spalte von links. Aufgezeigt sind die Fallraten unterschiedlicher Altersgruppen der letzten 4 Wochen, normiert auf 100.000 Einwohner der jeweiligen Impfstatus-Gruppe (wie bei Dänemark und Schottland inkl. Asymptomatische). Hier finden wir nur die Infektionsraten der Ungeimpften (2. Spalte) und die der Geboosterten (1. Spalte) vor. Schaut man sich die Zahlen der beiden Spalten an, fällt auf, dass lediglich bei den unter 18-Jährigen die Ungeimpften höhere Infektionsraten (5.558,5) aufweisen als die Geboosterten (1.872). In allen anderen Gruppen liegen unter den Geboosterten höhere Infektionsraten vor. Bei den 30- bis 69-Jährigen ist die Infektionsrate bei den Geboosterten sogar mehr als verdoppelt.
Somit lässt sich feststellen, dass man weder in Dänemark, Schottland noch in England aktuell einen signifikanten Fremdschutz, speziell für die Altersgruppen, die aktuell von einer Impfpflicht betroffen wären, erkennen kann (sogar eher einen negativen Schutz gegen Infektionen).
Natürlich könnten auch die oben untersuchten ausländischen Daten, welche aktuell so deutlich gegen eine positive Impfeffektivität zu sprechen scheinen, Verzerrungsfaktoren unterliegen, die dem Autor dieses Textes derzeit nicht bewusst wären (immerhin werden im Gegensatz zu Deutschland auch asymptomatische Fälle einbezogen und die Verzerrung im Testverhalten dürfte dank weniger 3G geringer ausfallen als hierzulande).
Darüber hinaus sind die oben aufgezeigten Beispiele nur ein kleiner Ausschnitt der weltweit verfügbaren Daten.
Betrachtet man aber allein die besprochenen vier Beispiele Deutschland, Dänemark, Schottland und England als Eckpfeiler, so wäre ein Schutz vor Infektion irgendwo zwischen positiv (Deutschland) und negativ (Dänemark, Schottland, England, letzteres für ü18) zu verorten. Eine vernünftige Arbeitshypothese könnte – davon ausgehend – zunächst sein, einen Fremdschutz von +/- Null anzunehmen.
Eine abschließende Beurteilung dahingehend, dass ein signifikanter Fremdschutz durch Impfung feststehe, wäre nach Meinung des Autors hingegen derzeit eine Anmaßung. Viele Politiker und leider auch Gerichte würden somit in jüngerer Vergangenheit geradezu leichtfertig Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit bzw. die Berufsfreiheit vieler Menschen in Kauf genommen haben. Das wäre fatal. Nach Meinung des Autors dieses Textes wäre es daher wünschenswert, in der Debatte um die Impfpflicht in Zukunft deutlich rigoroser und spezifischer zu argumentieren, als es im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts unter bloßer Erwähnung einer „weitgehend übereinstimmenden Einschätzung der angehörten sachkundigen Dritten“ der Fall zu sein scheint.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Der subjektive Student, Jahrgang 1996, wurde im Ruhrgebiet geboren. Er studiert aktuell und hat in der Corona-Krise aus einem persönlichen Leidensdruck heraus begonnen, seine eigene Sicht auf die „Pandemie“ auf seinem YouTube- und Telegram-Kanal mit anderen zu teilen. Als Teil der Gegenbewegung in der Corona-Krise versucht er, sowohl durch inhaltliche Aufklärung als auch durch seine Betonung auf die eigene subjektive Sicht der Dinge und die Unsicherheit des eigenen Wissens den Debattenraum insgesamt demütiger zu machen und so positiv zu beeinflussen. „Alles ist Vermutung“, wie der bekannte Philosoph Karl Popper es ausdrückte.
Bild: DesignRage / ShutterstockText: Gast