Freiheit statt Lockdown in Moskau Russlands Umgang mit Corona

Andere Länder, andere Sitten. Hätte mir vor ein paar Jahren jemand gesagt, dass einmal Russland ein Sehnsuchtsort in Sachen Freiheit würde – so recht hätte ich es nicht geglaubt. Gut, es ist alles nicht so schwarz-weiß, wie es oft dargestellt wird. Man muss hier nur an den großen russischen Satiriker Michail Saltykow-Schtschedrin denken. Der schrieb schon im 19. Jahrhundert, dass die Strenge der russischen Gesetze dadurch kompensiert werde, dass man sie nicht unbedingt einhalten muss. Insofern bot Russland schon immer eine große Spannbreite zwischen überbordender Bürokratie auf der einen und Freiheit auf der anderen Seite. Selbst in Gesprächen: Politische Korrektheit ist für die Russen in der Regel ein Fremdwort. Denunziation verpönt. Umgekehrt ist die medizinische Versorgung für den Normalsterblichen vor allem außerhalb der großen Städte teilweise immer noch katastrophal. Auch das ist ein Faktor, der in Corona-Zeiten zu bedenken ist.

Auch bei der Maskenpflicht im größten Flächenland der Erde trifft wieder die alte Weisheit von Saltykow-Schtschedrin zu. Die Pflicht steht, die Strafen sind hoch. Und viele ignorieren sie trotzdem. Und nur wenige kommen auf die Idee, Mitmenschen zu belehren – das gilt eher als verpönt. Im Frühjahr hatte Russland noch einen strikten Lockdown; selbst aus den Häusern durften die Menschen in den großen Städten offiziell nur noch mit QR-Codes auf den Handys, die als eine Art Passierschein funktionierten. Der Unmut war groß. Und Wladimir Putin wäre nicht seit 20 Jahren an der Macht, wenn er nicht ein feines Gespür dafür hätte, auf die Stimmungen im Lande zu reagieren. Eine Verlängerung oder Neuauflage der harten Maßnahmen hätte für ihn gefährlich werden können.

Und so kam es zur 180-Grad-Wende. Keine Spur von so harten Maßnahmen, wie sie in Deutschland inzwischen eingeführt sind. Und auch aktuell keine geplant, zumindest nicht in der Hauptstadt, wie jetzt im russischen Fernsehsender 24 (VGTRK) Alexei Nemeryuk versicherte, Leiter der Abteilung für Handel und Dienstleistungen im Moskauer Rathaus: „Wir hoffen, dass wir einen Lockdown trotz allem vermeiden können. Viele Länder haben diesen Weg bereits eingeschlagen, die einen haben eine Ausgangssperre eingeführt, die anderen eine vollständige Sperrung für fast einen Monat verhängt. In Moskau sind sowohl Geschäfte als auch Restaurants geöffnet. Es gibt keine Voraussetzungen für eine vollständige Schließung.“

Aktuell müssen Restaurants, Bars und Cafés nur von 23:00 bis 06:00 Uhr schließen. Für deutsche Verhältnisse fast ein Eldorado. Nemeryuk erinnerte daran, dass die Schließung über Nacht auch an Silvester in Kraft bleiben wird: „Um 23:00 Uhr sollten sich alle Gastronomie-Betriebe bei ihren Kunden bedanken, ihnen ein frohes neues Jahr wünschen und sie zum Feiern nach Hause schicken“, sagte er. Auch Sportstätten wie Fitness-Clubs und Schwimmbäder sowie Kultureinrichtungen haben in Moskau geöffnet. Wenn ich russischen Freunden von den strikten Maßnahmen bei uns erzähle, bekommen sie fast schon etwas Mitleid.

Entspannt ist die Lage aber auch in Russland nicht. Die Zahl der positiv Getesteten in dem Land stieg von Samstag auf Sonntag um 28.080 Menschen. Die Gesamtzahl der seit Beginn der Pandemie positiv Getesteten erreichte in den 85 Regionen 2.707.945. Für Menschen über 65 Jahren gelten anders als für die jüngere Bevölkerung teilweise massive Beschränkungen bis hin zu altersspezifischen Ausgangssperren.

Die Zahl der Todesfälle aufgrund von Coronavirus in Russland ist zuletzt um 577 gegenüber dem Vortag gestiegen. Zuvor betrug der tägliche Anstieg 450 Fälle. Insgesamt starben in Russland 47.968 Patienten an der Infektion. Kritiker der Regierung gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Es gibt Berichte über dramatische Zustände in russischen Krankenhäusern. Diese sind schon unter normalen Bedingungen oft massiv überlastet; dass Patienten auf den Gängen liegen, war bereits vor der Corona-Krise keine Ausnahme. Inzwischen sollen sich diese Zustände noch weiter verschlechtert haben.

In Sankt Petersburg hatte sich die Lage Anfang Dezember so zugespitzt, dass der Gouverneur Alexander Beglow am 7. Dezember warnte, die Stadt stünde kurz vor einem Lockdown. Er appellierte an die Bevölkerung, die Hygieneregeln einzuhalten. Laut Beglow arbeiteten die Krankenhäuser und Polikliniken in der Millionenstadt am Rande ihrer Kapazität, die Ärzte stießen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten: „Bis Neujahr haben wir noch Kapazitäten, um schwerkranke Patienten mit Covid in den Krankenhäusern zu versorgen, sagte er. Doch danach drohe ein Überschreiten der  „roten Linie“. Sollte es dazu kommen, müsste die medizinische Versorgung in den Krankenhäusern aus dem Normalmodus in den „Infektionsmodus“ umgestellt werden, warnte der Gouverneur.

Impfungen in vollem Gange

Spezialisierte Krankenhäuser für die Aufnahme von Patienten mit COVID-19 in St. Petersburg müssen derzeit täglich rund 800 neue Patienten aufnehmen. Beglov erklärte, dass die Anzahl der freien Betten in den Krankenhäusern Ende November/Anfang Dezember leicht gestiegen sei, was jedoch nicht auf einen Rückgang der Anzahl der Krankenhausaufenthalte zurückzuführen sei, sondern auf die Nachsorge von Coronavirus-Patienten zu Hause. Der Regionalfürst fügte hinzu, dass in der Stadt bereits 11.000 Spezialbetten zur Behandlung von Patienten mit Coronavirus und ambulant erworbener Lungenentzündung eingerichtet wurden. Bis Ende des Jahres könnte sich ihre Zahl auf 13.000 erhöhen. Am 7. Dezember etwa war die Zahl der positiv Getesteten um 3.741 gegenüber dem Vortag gestiegen.

In Russland wird bereits gegen Covid-19 geimpft. Die Nachfrage hält sich jedoch in Grenzen, viele Russen trauen dem eilig entwickelten Impfstoff nicht. Im Oktober waren nach Umfragen nur 23 Prozent der Russen bereit, sich impfen zu lassen. Ein kremlfreundliches Umfrage-Institut ermittelte inzwischen 42 Prozent Impfbereitschaft. Russland ist eines der Länder, die weltweit am stärksten von Corona betroffen sind. Laut Statistikbehörde starben zudem bis Ende Oktober 164.000 Menschen mehr als in den Vorjahren, wie das Handelsblatt berichtet: „Von dieser sogenannten Übersterblichkeit seien gut 90 Prozent auf Folgen der Pandemie zurückzuführen“, so die Zeitung ohne Nennung einer konkreten Quelle.

Ausgerechnet das stark betroffene Russland kommt bei der Abwägung zwischen Gesundheit auf der einen Seite sowie Freiheit und/oder wirtschaftlichen, sozialen und politischen Konsequenzen auf der anderen Seite zu einem ganz anderen Ergebnis als etwa Deutschland. Man kann dies ganz unterschiedlich einschätzen. Und sich heftig über die Motive der jeweiligen Regierungen und Werte in den Gesellschaften streiten. Eine unterschiedliche Sichtweise ist nicht nur völlig legitim. Ja sie ist sogar notwendig in einer Demokratie. Schön wäre es, wenn eine sachliche Diskussion darüber ohne Hysterie und Beschimpfungen möglich wäre.

Ich persönliche empfinde in diesen Tagen eine Sehnsucht nach meiner zweiten Heimat Moskau, die so groß ist wie selten zuvor. Würde ich einer Risikogruppe angehören, wäre das zwar sicher anders. So aber muss ich offen und ehrlich gestehen, dass ich weitaus lieber in Moskau wäre in diesen Tagen als in Berlin. Und meine vielen russischen Freunde um ihre Freiheit beneide. Es gab Zeiten, da hätte ich mir das nicht vorstellen können.

 

[themoneytizer id=“57085-1″]

Bild: Sergey Bezgodov/Shutterstock
Text: br


[themoneytizer id=“57085-2″]

[themoneytizer id=“57085-3″]

[themoneytizer id=“57085-19″]

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert