Journalisten sollen Interviews machen und nicht geben, mahnte mein langjähriger Chefredakteur Helmut Markwort immer. Der Focus-Gründer mag es gar nicht, wenn Journalisten sich selbst in den Vordergrund stellen. Ich sehe das wie er – und hadere oft damit, dass ich wegen des Formats meiner Seite und meines Youtube-Kanals nicht – bzw. noch nicht – so weit im Hintergrund bleiben kann, wie ich das gerne würde. Aber aus diesem Grunde versuche ich, Auftritte anderswo zu vermeiden. Auch deshalb, weil es so viele Anfragen gibt – und ich zwangsläufig auswählen müsste. Was dann diejenigen, denen ich absagen müsste, berechtigterweise verärgern würde. Für die „JF“ habe ich eine Ausnahme gemacht – weil es um ein Print-Interview ging, also in Text-Form, und weil die „JF“ ebenso wie die Achse des Guten und im Gegensatz zu manchen anderen immer solidarisch ist, wenn man selbst unter Druck gerät (sehen Sie dazu den „Achgut“-Beitrag „Die Vertreibung des Boris Reitschuster“). Aber jetzt genug über mich – sonst mache ich genau das, was ich vermeiden will – hier meine Einschätzung der aktuellen Lage:
MORITZ SCHWARZ: Herr Reitschuster, bei unserem letzten Interview 2020 sprachen Sie von einem „beginnenden Totalitarismus“ in Deutschland.
BORIS REITSCHUSTER: Womit ich allerdings nicht unser politisches System meinte, sondern eine gewisse Gesinnung. Nämlich zu glauben, dass es für das „Gute“ legitim sei, das Recht sowie die Rechte anderer zu übergehen.
SCHWARZ: Wie lautet Ihre Bilanz nun zwei Jahre später?
REITSCHUSTER: Die fällt eher fatal aus. Zwar sind wir trotz allem von einem totalitären politischen System noch weit entfernt. Ähnlich weit entfernt sind wir aber auch von der freiheitlichen Demokratie, die wir früher einmal waren. Weil es eben immer mehr um sich greift, Menschen mit einer anderen Denkweise als „Feinde“ zu sehen und zunehmend auch gegen sie vorgegangen wird.
SCHWARZ: Sie betrachten sich, beziehungsweise Ihr Portal reitschuster.de, selbst als betroffen?
REITSCHUSTER: O ja, und inzwischen hat sich so viel ereignet, dass ich es kaum noch aufzuzählen vermag: So wurde uns nun zum viertenmal das Bankkonto gekündigt, ebenso der Bezahldienst PayPal. Was Werbung angeht, stehen wir auf der schwarzen Liste, „ständig“ wird meine Facebook-Seite gesperrt. Meine LinkdIn-Seite wurde dauerhaft gelöscht.
SCHWARZ: Vor kurzem haben Sie bekanntgegeben, dass sogar die Staatsanwaltschaft Berlin gegen Sie ermittelt.
Reitschuster: Ich habe nur davon erfahren, weil die Polizei einen Verwandten und meinen früheren Hausmeister befragt hat. Als ich dann bei der Polizei nachhakte, hieß es erst, es liege nichts vor. Inzwischen aber weiß ich, dass man wegen „Verdacht der Androhung einer Straftat und Störung des öffentlichen Friedens / Öffentliche Aufforderung zu einer Straftat“ ermittelt.
'Ein solches Vorgehen der Polizei hätte ich mir nicht träumen lassen'
SCHWARZ: Um was geht es konkret?
REITSCHUSTER: Das weiß ich nicht. Mein Anwalt hat Akteneinsicht beantragt, aber noch keine Reaktion erhalten. Laut Polizei soll in einem Artikel auf meiner Seite „zum Fälschen von Impfpässen aufgefordert“ worden sein. Um welchen Artikel es geht, kann ich nur mutmaßen. Vielleicht um einen vom September 2021, den ich von der Seite „Achse des Guten“ übernommen habe, Titel: „Digitaler Impfpaß: Ein Fest für Fälscher“ von Robert von Loewenstern, Jurist und früher Washington-Korrespondent der Sender n-tv und Pro7. Mein Anwalt sagt, er sei astrein. Jeder kann sich davon selbst überzeugen, da der Text weiter auf reitschuster.de online ist. Aber wieso muss die Polizei dazu Verwandte und den Hausmeister befragen? Wieso fragt sie nicht mich? Die Polizei weiß, wie sie mich erreicht, meine Kontaktdaten stehen im Internet.
SCHWARZ: Was vermuten Sie also?
REITSCHUSTER: Ein Anwalt sagte mir, er gehe von „Einschüchterung“ aus. Ich selbst maße mir ein solches Urteil nicht an. So sehr solche Dinge zermürben – ich versuche, das Positive zu sehen: Ich bin auf freiem Fuß. Genau das wäre wohl nicht so in einer Diktatur. Wir sind keine. Aber ich hätte mir vor zwei Jahren ein solches Vorgehen der Polizei wegen kritischer Berichterstattung nicht träumen lassen! Und ich bin nicht der einzige, der solche Erfahrungen macht. Deutlich schlimmer erging es etwa dem Mediziner Paul Brandenburg, dem Impf-Experten Stefan Hockertz oder dem Querdenken-Mitgründer Michael Ballweg und vielen anderen. Ich frage mich: Wenn heute bei uns Verhältnisse herrschen, wie ich sie mir vor zwei Jahren noch nicht vorstellen konnte – was für Verhältnisse werden wir in weiteren zwei Jahren haben?
SCHWARZ: Was befürchten Sie?
REITSCHUSTER: Meine Angst ist, dass wir die realen Gefahren völlig unterschätzen. Weil wir ganz im Bann einer Vergangenheit mit Konzentrationslagern stehen und immer auf das katastrophale Maximum starren – und deshalb vergessen, daß Autoritarismus nicht erst dort anfängt. Deshalb sehen wir auch nicht, daß Freiheit selten schlagartig, sondern meist stückchenweise stirbt.
'Wie schnell ein System, das stabil zu sein scheint, kollabieren kann'
SCHWARZ: Wenn also kein neues Drittes Reich, was droht dann?
REITSCHUSTER: Die Umwandlung einer freiheitlichen Demokratie in eine Gesinnungsgesellschaft. Das, was die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley laut Chaim Noll prophezeite: Die „Stasi-Strukturen und (ihre) Methoden“ werden wiederkehren, „man wird sie ein wenig adaptieren … Störer nicht unbedingt verhaften, es gibt feinere Möglichkeiten … Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren, Ausgrenzen, Brandmarken, Mundtotmachen, derer die sich nicht anpassen, wird wiederkommen … man wird Einrichtungen schaffen, viel effektiver … viel feiner als die Stasi … auch das ständige Lügen, die Desinformation und der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“
SCHWARZ: Befürchtungen dieser Art hat der renommierte Journalist Jan Fleischhauer vor wenigen Wochen im Interview mit dieser Zeitung widersprochen: Warner vor der demokratiepolitischen Apokalypse seien eher „Opfer ihrer eigenen Steckenpferde“, denn wer „den Hammer in der Hand hält, sieht bekanntlich überall Nägel“.
REITSCHUSTER: Das hängt wohl stark mit der persönlichen Erfahrung zusammen. Ich habe einmal ähnlich gedacht wie Herr Fleischhauer – ja, ich war sogar sehr links und bei den Jusos. Und als ich 1999 zum damals „konservativen“ Focus kam, dachte ich zuerst, um Gottes Willen, wo komme ich da hin? Doch ich habe 16 Jahre in Russland gelebt und sowohl den Zusammenbruch eines Systems erlebt als auch die Demontage von Demokratie. Ohne das würde ich vermutlich heute immer noch so denken – vielleicht sogar wie Haltungs-Journalisten à la Georg Restle, die glauben, dass es richtig ist, demokratische Prinzipien für das „Gute“ aufzugeben. Der Schlüssel für dieses Denken – dass es nicht wirklich schlimm werden kann – ist wohl eine Art Urvertrauen, das man vielleicht hat, wenn man das Schlimme nur aus Büchern kennt. Ich halte dieses Gefühl der Unverletzlichkeit aber für einen großen Irrtum! Wie schnell ein System kollabieren kann, das stabil zu sein schien, wissen nur sehr alte Menschen, die den Zusammenbruch von 1945 bewußt erlebt haben sowie Ostdeutsche der Jahre 1989/90 oder Menschen, die wie ich so etwas schon in einem anderen Land miterlebt haben. Die meisten Deutschen können sich einen Zusammenbruch nur theoretisch vorstellen, aber nicht als reale Gefahr. Das ist, wie wenn man einem Kubaner, der nie im Norden war, Schnee erklärt. Ich habe das einmal versucht und theoretisch hat er es auch begriffen, nur vorstellen konnte er es sich dennoch nicht. Und ich bemerke das auch bei Ukrainern und Russen, die in Deutschland leben und die aufgrund ihrer Erfahrung oft ein viel realistischeres Gespür als die Deutschen selbst dafür haben, was in unserem Land tatsächlich vor sich geht, wie gefährlich die Situation ist und wie heftig das, was auf uns zukommt, unter Umständen werden kann.
SCHWARZ: Dagegen spricht, dass wir bereits heftige Verwerfungen erleben – Masseneinwanderung, Lockdown, Corona-Grundrechtseinschränkungen, Wirtschaftskrise, Inflation, Ideologisierung und Einschränkung der Meinungsfreiheit, drohenden Energiemangel, vielleicht sogar Blackouts und Deindustrialisierung. Und dennoch wählt die große Mehrheit derer, die noch zur Wahl gehen – wie vergangenen Sonntag in Niedersachsen – die immer gleichen Parteien.
REITSCHUSTER: Das wundert mich gar nicht, denn das ist ja gerade die Crux dieser Scheinstabilität: dass fast bis zum Schluss der Eindruck herrscht, trotz allem sei das politische System in Zement gegossen. So war es in der UdSSR, als Gorbatschow 1985 Generalsekretär wurde, so war es in der DDR bis ins Jahr 1989. Auch bis zur Reichstagswahl 1932, als die NSDAP, die vier Jahre zuvor noch bei nur gut zwei Prozent dümpelte, plötzlich über 37 Prozent kam, hielten viele auch die Demokratie für unumstößlich.
SCHWARZ: Dann wundern Sie die relativen Wahlerfolge der etablierten Parteien nicht?
REITSCHUSTER: Doch schon, beziehungsweise sowohl als auch. Natürlich bin auch ich erstaunt und frage mich, was eigentlich noch alles passieren muss? Und manchmal denke ich, die Analyse der Wahlen sollte statt von Journalisten vielleicht besser von Psychologen vorgenommen werden. Aber andererseits weiß ich, daß es eben typisch für die Erosion von Gesellschaften ist, dass wie damals auf der Titanic an Deck bis zuletzt die Kapelle spielt.
'Die ‘Generation Wohlstand’ ist völlig unvorbereitet'
SCHWARZ: Oder wir irren uns tatsächlich – und der Churchill-Effekt tritt ein: In der Not schart sich das Volk hilfesuchend erst recht um die Führung.
REITSCHUSTER: Ich denke, der funktioniert nur, wenn die Führung auch „liefert“. Das aber ist in Deutschland nicht der Fall. Nehmen Sie Robert Habeck, wie war der noch vor kurzem beliebt! Und jetzt? Absturz! Weil er nichts als Worte bietet. Das gleiche mit Scholz, der im Herbst noch zum Kanzler gewählt wurde, oder mit Lindner und der FDP. Oder auch Gorbatschow: Wie wurde er als Reformer zunächst von den Russen begrüßt! Aber dann? Nein, in Deutschland rührt die Stabilität daher, dass wir noch von einem von vorigen Generationen aufgebauten Wohlstand zehren. Ist der aber aufgebraucht, befürchte ich einen dramatischen politischen Zerfall. Und die Generation Wohlstand ist völlig unvorbereitet. Um so heftiger und irrationaler wird die Reaktion ausfallen. Wir haben bei Corona Ähnliches erlebt, von einem Tag auf den anderen von völliger Sorglosigkeit zu irrationaler Panik. Ich mag mich irren, ja ich hoffe, dass ich mich irre. Aber ich fürchte, es wird so kommen.
SCHWARZ: Ihr Portal reitschuster.de hat sich seit seinem Start im Dezember 2019 zu einem führenden Alternativmedium gemausert – die Schweizer „Weltwoche“ hat Sie sogar zur „Einmann-Opposition gegen die deutsche Regierung“ gekürt. Wie erklären Sie sich das, die Konkurrenz ist schließlich nicht gering?
REITSCHUSTER: Oh, das müssen Sie eigentlich meine Leser und Zuschauer fragen. Aber wenn Sie unbedingt meine Vermutung hören wollen: Vielleicht spielt eine Rolle, dass ich versuche, immer ich selbst zu bleiben. Bescheiden, demütig und neugierig. Als die Demonstrationen gegen die Corona-Politik begannen, ging ich hin, um mir selbst ein Bild zu machen. Dafür wurde ich etwa von einer ZDF-Kollegin böse beschimpft. Was für eine Pervertierung der Prinzipien von Journalismus! Was auch noch typisch für mich ist: Ich mache viele Fehler, mir fällt mal der Scheinwerfer auf den Kopf oder ich verhaspele mich etc. Anfangs war mir das furchtbar peinlich. Heute sage ich mir: Die Leser akzeptieren mich so, wie ich bin, mit meinen Fehlern, sie verzeihen mir die. Solange ich dazu stehe.
'Von seinen Lesern lernen, statt sie zu belehren'
SCHWARZ: In der Tat fällt auf, dass Ihr Portal weit stärker als etwa diese Zeitung, „Achse des Guten“, „Compact“ oder selbst „Tichys Einblick“ von der Identifikation mit einer, Ihrer Person lebt.
REITSCHUSTER: Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich immer versuche, Distanz zum Leser und Zuschauer zu vermeiden. Für mich ist es so, als säße er vor mir. Ich rede auch immer frei, ohne Manuskript. Ich verstehe unter Journalismus, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Ganz nah an den Lesern zu sein: einer von ihnen. Mit ihnen zu kommunizieren, von ihnen zu lernen – statt sie zu belehren. Das heißt nicht, dass ich mich mit allem gemein mache, und Unvoreingenommenheit ist auch für mich die entscheidende Voraussetzung für Journalismus! Aber sie ist eben nicht das gleiche wie Distanz.
SCHWARZ: Unvoreingenommenheit haben Sie etwa gezeigt, als Sie, obwohl als heftiger Kritiker Putins bekannt, sich dennoch dafür ausgesprochen haben, ihn zu verstehen. Was viele überrascht, etliche gar verärgert hat.
REITSCHUSTER: Vorsicht! Ich unterscheide zwischen Verständnis und Verstehen. Natürlich muß man versuchen, Putin zu verstehen und was der Westen falsch gemacht hat: Leider zu viel. Wenn Sie solche Töne von mir jetzt überraschen: Ich folge eben keiner Ideologie und will auch niemanden belehren. Wobei ich gestehe, dass mir früher diese Sünde auch nicht fremd war. Was Putin angeht, so ist meine kritische Haltung zu ihm bekannt. Dennoch meine ich nicht, wie viele Kollegen, dass Russland am deutschen oder westlichen Wesen genesen muss. Und ich sehe auch, dass etliches, was Putin tut, auch eine Reaktion auf genau diese Haltung ist. Natürlich kosten mich solche Aussagen ebenso wie meine Kritik an Putin Leser und Zuschauer. Aber ich würde mich schämen, würde ich mich da nach dem Wind drehen. Das werde ich bei keinem Thema machen. Für mich ist entscheidend, dass ich mit mir selbst im Einklang bin. Aber wir reden jetzt viel zu viel über mich, ich stehe sehr ungern im Vordergrund!
Das Original-Interview finden Sie auf der Seite der „JF“.
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