Die schönsten – und absurdesten – Geschichten schreibt das Leben. Die aktuellste stammt aus der Ukraine. Aus der Zeit vor dem Krieg weiß ich, dass die Eisenbahn in dem Land immer sehr zuverlässig war – ganz anders als die Deutsche Bahn. Ganz offensichtlich hat sich das aber trotz des Krieges und großflächiger Bombardements gerade auch der Infrastruktur nicht geändert.
Anlässlich des Besuchs von US-Präsident Joe Biden, der auf der Schiene nach Kiew reiste, twitterte Oleksandr Kamyshin, der Chef von „Ukrzaliznytsia“, also der ukrainischen Eisenbahn: „Ich möchte mich auch dafür entschuldigen, dass wir gestern unsere OTP (Pünktlichkeits-Leistung) verletzt haben. Wir mussten einige unserer Züge verzögern, um die #RailForceOne durchzubekommen. Es war schmerzhaft für mich und mein Team, aber ich musste das tun. So kamen gestern nur 90 Prozent unserer Züge pünktlich an. Ich entschuldige mich.“
Kamyshin gibt in seinem Twitter-Profil als Motto an: „Running Ukrainian railways on schedule“. Frei übersetzt: dafür sorgen, dass die ukrainische Eisenbahn immer planmäßig fährt. Die Leistung der ukrainischen Eisenbahn ist eine riesige Ohrfeige für die Deutsche Bahn. Auch ohne Krieg und ohne den US-Präsidenten durch das halbe Land transportieren zu müssen, kann die Bahn von 90 Prozent Pünktlichkeit – für die sich die Ukrainer schämen – nur träumen. Statista.de schreibt etwa: „Im Jahr 2022 belief sich die Pünktlichkeit der Züge der Deutschen Bahn Fernverkehr AG auf insgesamt rund 65 Prozent und hat sich damit gegenüber dem Vorjahr um rund zehn Prozent verschlechtert. Als pünktlich gilt ein Zug mit einer Verspätung von unter sechs Minuten. Ausgefallene Züge werden in dieser Statistik der Deutschen Bahn nicht berücksichtigt.“
Kritik an der Bahn kommt nun sogar von den Grünen – obwohl sie ja an der Regierung und damit zumindest mitverantwortlich für das Desaster sind. Jan Philipp Albrecht, von 2018 bis 2022 Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung in Schleswig-Holstein, heute Chef der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, kommentierte den Tweet des ukrainischen Bahnchefs auf Twitter wie folgt: „Die #Bahn in einem Land, das unter ständigem Raketenbeschuss steht, entschuldigt sich dafür, dass wegen des Besuchs des US-Präsidenten (der dort 20 Stunden im Zug unterwegs war) ausnahmsweise an einem Tag nur 90 Prozent der Züge pünktlich waren. Nehmt ihr das wahr, @DB_Presse?“
Von einer Antwort der Bahn ist nichts bekannt. Dafür tobt der Zorn der Nutzer – die sich offenbar mit Hohn für verpasste Lebenszeit durch Dauer-Verspätungen schadlos halten. Ein Nutzer schreibt an die Bahn: „Wie lauten denn Ihre Entschuldigungen? Ist etwa Präsident Steinmeier via Zug Tag für Tag kreuz und quer durch die Republik unterwegs oder unterliegt das der Geheimhaltung?“ Ein anderer Nutzer schreibt: „Es ist ungerecht, die Bahn in einem Land mit kaputtem Bildungssystem mit einem Land mit einem funktionierenden Bildungssystem zu vergleichen. Frieden darf keine Entschuldigung sein!“ Ein anderer Kommentar: „Man traut man sich gar nicht, sich so etwas für die Strecke Köln-Frankfurt zu wünschen.“ Oder: „Die vier Feinde der Deutschen Bahn: Frühling, Sommer, Herbst und Winter.“ Und: „Dafür gibts jetzt vegane Gerichte im Bordrestaurant 👍, alles eine Frage der Prioritäten.“
Geradezu putzig ist, dass die Gewohnheit vieler Ideologen, stets den Überbringer schlechter Nachrichten zu attackieren, statt sich mit den Problemen zu befassen, auch gegen den Grünen Ex-Minister voll durchschlägt. So kommt ein Twitter-Nutzer mit anonymem Profil mit der üblichen Populismus-Keule: „Das ist doch wirklich Populismus in seiner Reinform. Nichtzusammenhängendes wird vermengt und Komplexes übersimplifiziert. Trump lässt grüßen …“. Getroffene Hunde bellen, kann man hier nur sagen. Ein anderer Nutzer mit Fantasie-Profibild schreibt: „Erst recht als Politiker sollte gelten: Wenn man keine Ahnung hat, … Shut up“. Also: Halt den Mund! Ein anderes Fantasie-Profil verbreitet ebenfalls den zeittypischen rotgrünen Defätismus: „Haben die sonst keine ernsthafteren Probleme zur Zeit?“
So sehr die Diskussion ein Sturm im Wasserglas ist – so typisch ist sie doch für das vergiftete gesellschaftliche und kritische Klima in Deutschland. „Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht“, sagte einst Kurt Tucholsky. Daran hat sich nichts geändert.
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