Gesinnungspolizei statt Kellnerin Kunde darf nur sein, wer öko genug ist

Eine frei erfundene Parabel von Thilo Schneider

Das „Leopold´s“ kenne ich seit etwa 20 Jahren. Es ist ein kleines Straßencafé mit dem in meinem Schtetl mutmaßlich besten Cappuccino und, ich will ehrlich sein, dem zweitbesten gedeckten Apfelkuchen, den die Wirtin des „Leopold´s“ selbst backt. Außer Haus darf sie ihn nicht verkaufen, weil vom Gesetz her, sie ist keine Bäckerin, aber nachmittags um halb drei darf ich da einen Kuchen essen. Jedenfalls bisher. Wir kennen uns, wir lieben uns, und ein nicht unbeträchtlicher Teil meiner Ausgaben hat der Wirtin die Eigentumswohnung finanziert. Aber für das Gesamtpaket aus Kaffee, Kuchen und leicht patiniertem Interieur habe ich ihr auch den Deppenapostroph verziehen. Auch, wenn es zehn Jahre gedauert hat.

Nun sitze ich am Mittwoch wieder im Etablissement, brav den nassen Schirm im 50-er Jahre Schirmständer geparkt, den Autoschlüssel, wie immer, auf dem Tisch, die Zigarillos und das Feuerzeug daneben, und lächle freundlich Francesca, die Bedienung, an. Obwohl der Laden noch relativ leer ist, macht Francesca auch nach zehn Minuten keine Anstalten, eine Bestellung aufzunehmen. Was sie auch nicht müsste, ich nehme sowieso immer das Gleiche. Ich bin Stammgast. Zumindest dachte ich das. Nach einer weiteren Viertelstunde tut sich immer noch nichts. Ich habe meine Social-Media-Accounts gecheckt und einen Don-Alphonso-Artikel bei der WELT gelesen, was ich normalerweise zweimal tun muss, damit ich ihn einmal verstehe. Francesca ignoriert mich.

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Also rufe ich sie: „Francesca, das übliche Gedeck bitte.“ Francesca tut so, als hätte sie mich nicht gehört. Ich prüfe, ob ich gestorben und nur noch in feinstofflicher Art und Weise vorhanden bin – aber nein. Ein kleiner Hustenanfall überzeugt mich, dass ich noch lebe. „Francesca?“ Sie schaut mit scheuem Blick zu mir, wendet sich dann aber ab. Na gut, irgendetwas stimmt nicht. Ich will gerade aufstehen, als sie nach einem Blick über die Schulter an meinen Tisch kommt. Mit leeren Händen.

„Ich darf Dich nicht bedienen“, sagt sie in traurigem Flüsterton und, da meine Ohren mit 56 auch nicht mehr die Besten sind, frage ich nach: „Was?“ „Ich darf Dich nicht bedienen“, raunt sie mir etwas lauter zu. Der Herr mit der Zeitung am anderen Ende des Raumes wirkt, als würde er uns nicht hören. „Was? Ist das ein Scherz? Warum denn nicht?“, vergewissere ich mich. „Weil…“, sie stützt ihre Hände auf die Lehne des mir gegenüberstehenden Stuhls, „…Du gegen die Gemeinschaftsstandards verstoßen hast!“ Ich muss wohl so aussehen, als hätte Sie mir das auf Suaheli gesagt. „Ich habe gegen die Gemeinschaftsstandards verstoßen?“ „Ja.“ „Ja, aber wie denn?“ Sie schaut zu Boden: „Wenn Du das selbst nicht weißt, ich kann Dir nur sagen, dass Du gegen die Gemeinschaftsstandards verstoßen hast!“ „Okay, aber was sind denn die Gemeinschaftsstandards?“, frage ich, zutiefst im Innern erschüttert, nach. „Wenn Du sie nicht kennst, dann ist das Deine Schuld“, antwortet sie, was mir nicht wirklich weiterhilft. Ich erkläre mich: „Ich komme seit 20 Jahren, drei Kindern und zwei Ehen hierher. Ich nehme mein Gedeck, zahle und gebe immer (!) Trinkgeld. Das weißt Du. Ich gröle nicht herum, lasse mich nicht volllaufen, schreie niemanden an oder rede so laut, dass ich die Zahnarztpraxis über uns übertöne, beleidige niemanden, belästige niemanden, stelle meinen Schirm in den verdammten Schirmständer…“ „Da, schon wieder!“, sagt Francesca. „Was, ‚schon wieder’?“, will ich wissen. „Du hast schon wieder gegen die Gemeinschaftsstandards verstoßen“, erklärt sie.

Ich bin verblüfft. „Und wie habe ich das gemacht?“, will ich wissen. „Du hast ‚verdammt’ gesagt!’“, erwidert sie. „Ich habe ‚verdammt’ gesagt?“ „Ja. ‚Verdammter Schirmständer’ hast Du gesagt.“ Ich merke, wie ich das erste Mal seit 20 Jahren im „Leopold´tztztz“ Adrenalin ziehe: „Verdammter Schirmständer…“ „….pschtpscht…“ „…ist also ein Verstoß gegen die Gemeinschaftsstandards, weswegen ich keinen Kaffee kriege?“ „Ja, und das ist jetzt Dein dritter Verstoß. Eigentlich müsste ich Dich bitten, das Lokal zu verlassen!“, wird auch sie etwas bestimmter. „Mein dritter Verstoß?“ „Ja!“

Werbung für Drogen und fossile Brennstoffe

„Francesca, ich wollte einen Kaffee und einen Apfelkuchen! Wie immer! Seid Ihr das verd… seid Ihr seit Neuestem Facebook oder was?“, knurre ich mehr, als dass ich spreche. Der Gast vom anderen Ende des Etablissements ruft „Francesca, wärst Du so nett und würdest mir die Rechnung geben? Ich fänd’s toll, wenn ich bezahlen dürfte“ und Francesca macht den Rücken gerade und zieht in Richtung Zeitungsmann ab. Sie kassiert, bedankt sich für das Trinkgeld, das ja ja viel zu viel, aber der Gast meint, das ginge in Ordnung. Und kaum ist er raus zur Türe, kommt sie wieder. „Tut mir wirklich wirklich leid, aber Verstoß ist Verstoß.“ „Ok, ich habe ein böses Wort gesagt, aber das war ja der dritte Verstoß. Was waren die ersten beiden?“ Sie zeigt auf den Tisch: „Tabak und der Schlüssel eines Verbrenners. Klingelt es?“ Ja, es klingelt. Ich habe versehentlich Werbung für Drogen und fossile Brennstoffe gemacht. Und „verdammt“ gesagt. Sie mögen streng sein, die Gemeinschaftsstandards, aber sie schützen auch andere Menschen vor Belästigung und negativer Beeinflussung.

Ich stehe auf. „Seit 20 Jahren habe ich diesen Bums besichtigt. Seit 20 Jahren habe ich hier ein Scheiß-Geld gelassen. Bitte fickt Euch gepflegt ins Knie, Ihr Wichser. Mich habt Ihr in diesem Puff das letzte Mal gesehen. Wenn ich schon gegen obskure Gemeinschaftsstandards verstoße, dann soll es wenigstens einen Grund dafür geben, Du Kaffeeschnepfe.“ Ich packe Zigarillos und Schlüssel ein, renne zum Ausgang, ziehe den Schirm aus dem Schirmständer, den ich mit einem schmackigen Tritt in die Ecke kicke, und werfe die Tür.

Erbost stehe ich vorm „Luitpold´s“ mit seinem verschissenen Deppenapostroph. „Na, auch Raucher und Dieselfahrer?“ raunt mich eine Stimme von hinten an. Ein Herr in etwa meinem Alter, Sonnenbrille trotz des Regens und Zigarette in der Hand. „Da oben“, sagt er und deutet auf ein Fenster im Altbau gegenüber, „treffen wir uns bei Stephan. Da gibt’s Kaffee, Apfelkuchen und einen riesigen Aschenbecher. Hier treffen wir uns immer Mittwochs.“ „Was ist das?“, will ich wissen. „Ein Herrenhaus“, antwortet er verschmitzt, und ich habe neuerdings mittwochs um halb drei immer einen Termin.

Bei diesem Text handelt es sich um eine frei erfundene satirische Parabel auf die „Gemeinschaftsstandards“ von Facebook & Co. Ich bitte um Verzeihung, dass dies  hier nicht sofort klar gemacht wurde. Danke für Ihre Nachsicht! Ihr Boris Reitschuster

Ausschreibung zur Fahndung durch die Polizei, Kontenkündigungen, Ausschluss aus der Bundespressekonferenz: Jeder, der kritisch berichtet, muss mit Psychoterror rechnen. Ich mache trotzdem weiter. Ich glaube, ich bin Ihnen das schuldig. Entscheidend fürs Weitermachen ist Ihre Unterstützung! Sie ist auch sehr, sehr motivierend – sie zeigt einem, dass man nicht allein ist und gibt einem Kraft! Ganz, ganz herzlichen Dank im Voraus!
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Thilo Schneider, Jahrgang 1966, freier Autor und Kabarettist im Nebenberuf, LKR-Mitglied seit 2021, FDP-Flüchtling und Gewinner diverser Poetry-Slams, lebt, liebt und leidet in der Nähe von Aschaffenburg. Weitere Artikel von Thilo Schneider finden Sie hier unter www.politticker.de. In der Achgut-Edition ist folgendes Buch erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

Bild: Screenshot Youtube-Video Extinction Rebellion UK

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