Die Gesinnungspolizei schläft nicht. Nicht mal am Wochenende.
Das ist die schlechte Nachricht. Die gute ist, wie aufmerksam in den großen Medien (und auch in der Politik) meine Seite gelesen wird. Erst gestern habe ich ein Interview mit dem Vize-Weltmeister Carsten Ramelow veröffentlicht, in dem dieser die Corona-Politik der Bundesregierung kritisiert hat. In meinen Augen eine völlig normale Sache in einer normalen Demokratie: Ein Prominenter kritisiert die Regierung.
Nicht so in Deutschland 2021. Die Rheinische Post und „Bild“ berichten über das Interview – und haben auch gleich von Ramelows ehemaligem Arbeitgeber eine Stellungnahme angefragt. So als seien Klubs für die richtige „Haltung“ ihrer ehemaligen Spieler verantwortlich. Der Artikel in der Regionalzeitung beginnt mit folgendem Satz: „Auf der Internetseite des deutschen Journalisten Boris Reitschuster hat der ehemalige Leverkusener Fußball-Profi Carsten Ramelow in einem am Samstag veröffentlichten Interview die aktuellen Maßnahmen der Bundesregierung in der Corona-Pandemie in Frage gestellt.“
So sehr ich einerseits positiv überrascht bin, dass bei der Nennung meiner Seite auf ein sonst häufiges „Framing“ verzichtet wurde (auch bei der „Bild“) und man faktisch Reklame für meine Seite macht – so sehr schockiert mich der Satz per se. Ein Ex-Fußballer stellt die „aktuellen Maßnahmen der Regierung“ in Frage. Ich dachte bisher, so etwas sei allenfalls in autoritären Regimen einen Einstiegssatz und umso mehr eine Nachricht wert. Bei der „Bild“ lautet der Einstieg: „Gerüchte gab es schon länger, dass Carsten Ramelow (46) den Corona-Maßnahmen kritisch gegenüberstehen würde.“ Das klingt wie aus einer Polizeimeldung.
Weiter heißt es in der RP: „Auf Nachfrage unserer Redaktion äußerte sich der Werksklub betont distanziert zu den Aussagen des Ehrenspielführers: ‘Carsten Ramelow hat seine private Meinung geäußert, das steht ihm zu. Wir als Bayer 04 teilen seine Aussagen nicht.‘“ Auf gut Deutsch: Die Rheinische Post zeigte sich bemüßigt, mitten am Wochenende den Ex-Arbeitgeber eines Ex-Profis anzurufen – wegen Regierungskritik. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen in einer Demokratie. Auffallend ist, dass die „Bild“-Zeitung zeitgleich auf die gleiche Idee kam, ebenso am Wochenende bei Leverkusen anrief, die gleiche Antwort erhielt und sich fast wortgleich wie die Rheinische Post empörte:
Die Reaktion von Bayer Leverkusen ist für heutige Zeiten fast schon mutig. Auch wenn sie die Frage aufwirft: Hat der Verein dazu seine Mitglieder befragt? Am Wochenende? Und finden es Bundesligavereine wirklich gut, dass keine Zuschauer mehr in die Stadien kommen dürfen? Sei’s drum – dass die Rheinische Post und die „Bild“ daraus dann die Überschrift „Bayer 04 distanziert sich von Ramelow“ machen, halte ich für mehr als fragwürdig. Es vermittelt dem Leser im Zweifelsfall genau das Gegenteil von dem, was Bayer wirklich gesagt hat. Ich teile bei weitem nicht alle Aussagen von meinen Gastautoren. Das bedeutet aber ganz und gar nicht, dass ich mich von ihnen distanziere. Zumindest im normalen Sprachverständnis sind das zwei völlig unterschiedliche Sachen.
Man hat hier den Eindruck: Weil Bayer nicht so recht die Lokomotive für einen Empörungszug machen will, versucht man selbst, diesen anzuschieben.
Es sind verrückte, ja hysterische Zeiten, in denen wir leben!
Hand aufs Herz: Hätten Sie sich vorstellen können, dass Journalisten bei Bayern München angerufen hätten, weil Franz Beckenbauer Helmut Kohls Politik kritisiert hat? Paul Breitner wurde einst von vielen Journalisten gefeiert, weil er die – damals konservative – Regierung kritisierte.
Text: br
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