Wie sehr heute bei uns die Begriffe verwischt sind, ja pervertiert, erschreckt mich immer wieder aufs Neue. Konkreter Anlass heute: Ein kurzer Kommentar von mir zu einer Schlagzeile in der „Bild-„Zeitung. Da stand auf einem Foto einer schönen jungen Frau und eines südlandischen jungen Mannes: „Getötet, weil sie beim Sex lachte! Wird Biancas Killer (18) niemals abgeschoben?“ (Details zu der Tat finden Sie hier).
Ich schrieb dazu: Man möchte gar keine Nachrichten mehr lesen in diesen Zeiten, es ist alles zu gruselig…
Hier: „Noch im Jahr seiner Einreise soll der damals erst 14-jährige Mohamed Ali S. einen Mitschüler in der Sportumkleide zu sexuellen Handlungen gezwungen haben. Laut Anklage soll er gedroht haben, er werde ihm sonst ‘die Luft abdrücken‘.
Das Urteil: Der Teenager bekam vom Amtsgericht Frankfurt nur eine Verwarnung, musste Sozialstunden leisten.“
Und so konnte er dann die 18-jährige Bianca C. ermorden.
Jetzt bekam er neun Jahre und acht Monate Haft. Ob er nach zwei Dritteln der Strafe abgeschoben wird und damit frei kommt, oder für immer in Deutschland bleiben darf, möglicherweise auch nach zwei Dritteln der Strafe als freier Mann, steht in den Sternen.
Das rief sofort rot-grüne Trolle auf den Plan, die bei Telegram mit wüsten Beschimpfungen die ganze Diskussion sprengten.
Eine Frau, die sich Ina Y. nennt, schrieb: „Lieber Boris, leider ist auch deine Berichterstattung mittlerweile ziemlich polarisierend und in keiner Weise neutral. Bye, bye.“
Ich weiß nicht, ob Ina Y. eine enttäuschte Leserin ist – oder ein Troll, der versucht, mich auf diese Weise zu diskreditieren. Denn ähnliche Wortmeldungen mit fast gleicher Semantik und gleichem Stil häufen sich. Was ein Indiz, aber kein Beweis für eine konzertierte Aktion ist (wer nicht glaubt, dass solche möglich ist, sollte mal das „Zersetzungs-Handbuch“ der Stasi lesen).
Meine rechte Hand, Ekaterina Quehl, schimpft oft mit mir, wenn ich auf provozierende Kommentare antworte. Das sei Energie- und Zeitverschwendung, sagt sie. Damit hat sie recht. Einerseits. Andererseits sage ich immer: Meine Antwort schreibe ich nicht für den, der provoziert. Sondern für die große Zahl der (Mit-)Leser, die offen sind für einen Meinungsaustausch.
Und so habe ich den Kommentar von Ina Y. zum Anlass genommen, um eines der grundlegendsten und tragischsten Missverständnisse in Sachen Journalismus zu thematisieren – das in meinen Augen wesentliche Mitschuld hat an dem Meinungs-Monopolismus in unseren großen Medien.
Hier meine Antwort an Ina Y:
Ich gebe hier lediglich einen Bericht aus einem großen Medium wieder. Frei nach Tucholsky: „In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der ihn macht.“ Wenn Sie sich angesichts so einer Nachricht vor allem darüber aufregen, dass ich angeblich nicht „neutral“ bin, ist das sehr vielsagend. Und Gott bewahre mich davor, dass ich angesichts solcher schrecklichen Zustände „neutral“ wäre. Sachlich, nüchtern, fair – ja. Das muss ich sogar sein. Aber neutral – das wäre ja gruselig. Neutralität in solchen Fällen würde bedeuten, Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Opfer zu zeigen. Da sieht man, wie verzerrt inzwischen die Begriffe bei vielen sind in diesem Land.
Stellen Sie sich vor, ein Arzt würde bei einem Notfall „neutral“ bleiben und keine Maßnahmen ergreifen, um das Leben des Patienten zu retten. Das wäre absurd und unverantwortlich. Der Arzt muss eine klare Entscheidung treffen; auch auf das Risiko hin, sich zu irren. Genauso verhält es sich mit Journalismus: Wir müssen aktiv und engagiert sein, um die Wahrheit ans Licht zu bringen und Missstände zu bekämpfen.
Kein Mensch kann neutral sein. Jeder Mensch ist subjektiv. Wir brauchen keinen „neutralen Journalismus“ – das wäre eine Illusion. Wir brauchen pluralen Journalismus, in dem die unterschiedlichsten Meinungen zu Wort kommen. Nur so kann Pluralität entstehen, die entscheidend für die Demokratie ist. Wie der Journalist und Autor Walter Lippmann sagte: „Es gibt keine Neutralität. Es gibt nur verschiedene Perspektiven, die wir verstehen und respektieren müssen.“
Das ganze Elend des „Haltungs-Journalismus“ hat damit begonnen, dass sich einige Journalisten in unsäglicher Selbstüberhöhung für „neutral“ erklärt haben – und sich damit selbst die Rechtfertigung lieferten, Journalisten mit anderer Meinung nicht mehr zu Wort kommen zu lassen. Früher gab es bei ARD, ZDF & Co. unterschiedliche Stimmen: Linke, rechte, konservative, bürgerliche, liberale. Es gab die konservative „Frankfurter Allgemeine“ und die linke „Frankfurter Rundschau“. Beide waren nie neutral – aber der Leser konnte unterschiedliche Meinungen kennenlernen und sich selbst ein Urteil bilden.
Nur so kann Journalismus funktionieren. In dem Moment, wo sich ein Journalist für „neutral“ erklärt, glaubt er sich im Besitz der Wahrheit. Und damit im Recht, andere mundtot zu machen. Deshalb haben wir heute diesen Einheitsbrei in den großen Medien. Weil sich unsere rot-grünen „Haltungs-Journalisten“ in ihrem Moral-Größenwahn für „neutral“ erklärt haben, maßen sie sich an, Journalisten wie Roland Tichy, Peter Hahne oder meine Wenigkeit auf schwarze Listen zu setzen und nicht zu Wort kommen zu lassen. Würden sie zugeben, dass sie eben nicht neutral sind, sondern rot-grün, dann müssten sie auch eingestehen, dass sie eben auch Nicht-Rot-Grüne zu Wort kommen lassen müssen, um ihren gesetzlichen Auftrag – Ausgewogenheit – zu erfüllen. Leider gehen zu viele Menschen diesem „Neutralitäts-Märchen“ auf den Leim.
Nochmal: Eine echte, plurale Medienlandschaft setzt voraus, dass niemand für sich in Anspruch nimmt, „neutral“ zu sein, sondern Journalisten ehrlich, immer fair, zumeist sachlich, aber durchaus zwischendurch auch einmal polemisch, ohne einen Hehl aus der eigenen Meinung und Präferenz zu machen, ihren jeweiligen Standpunkt präsentieren und die Leser sogar dazu auffordern, auch andere Standpunkte kennenzulernen. Aber genau das wollen die angeblich neutralen „Haltungs-Journalisten“ eben nicht. Im Gegenteil – sie fordern zum Teil explizit, dass Menschen mit anderer Meinung „keine Bühne“ gegeben werden dürfe. Aus ihrer Sicht reicht es aus, wenn die Menschen ihre ach so „neutrale“ Meinung kennenlernen. Schade, dass so viele Menschen auf diesen Etikettenschwindel hereinfallen.
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