Siebzehn Kamele und kein Verstand Eine Art Weihnachtsmärchen über das Lösen von Problemen

Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger

Vor langer Zeit lebte in einer recht wüstenreichen Gegend ein nicht allzu kinderreicher Araber. Er wurde, was selbst in der Wüste passieren soll, alt und älter, und man weiß, dass seine Kinder auch langsam erwachsen wurden, während das Schicksal seiner Frau in der Überlieferung nicht erwähnt wird. Sie ist allerdings für die Geschichte auch ohne jede Bedeutung, ganz im Gegensatz zu seiner kleinen Kamelherde, die einen wesentlichen Teil seiner beweglichen Habe ausmachte – und unbewegliche hatte er keine, kann man ja auch nicht haben, wenn man in Zelten in der Wüste lebt.

Wie es so geht, legte sich der alte Araber irgendwann auf sein mit Fellen ausgepolstertes Lager in seinem Wüstenzelt, um nicht mehr davon aufzustehen, sondern der irdischen Plage zu entfliehen. Bevor er aber seinen letzten Atemzug tat, wollte er doch noch seine Angelegenheiten regeln und rief seine Kinder zu sich. Wieder einmal fragte er sich, warum er eigentlich nur drei Kinder hatte, darunter auch noch eine Tochter, an der zwar sein Herz hing, die aber nach altem Brauch nicht so recht zählte. Und auch beim Betrachten seiner Söhne fehlte ihm ein wenig die Begeisterung, denn der ältere war bekannt dafür, dass er sich von jedem Händler übers Ohr hauen ließ, weil er nicht rechnen konnte, dem jüngeren dagegen fehlten schon jetzt die meisten seiner Zähne, weil er zwar einigermaßen mit Zahlen, aber nicht mit den Schlägen seiner Gegner bei seinen täglichen Prügeleien umgehen konnte. Kein sehr erfreulicher Anblick im Angesicht des Todes. Aus Sorge um seine Kinder beschloss der Alte, ihnen einen weisen Ratgeber für die Zukunft zu besorgen, stand aber vor dem Problem, dass er keine Zeit mehr hatte, einen zu suchen. Was also tun?

Er richtete sich ein wenig auf, blickte seine Nachkommen feierlich an und teilte ihnen mit, nun sei der Zeitpunkt gekommen, die Verteilung seines Erbes festzulegen. Er liebe sie alle drei, obwohl der älteste Sohn eine Zahl nicht von einem Essensrest unterscheiden könne, der zweite Sohn noch irgendwann sein Augenlicht bei einer Prügelei verlieren werde und die Tochter zwar keine größeren Fehler aufweise, aber bedauerlicherweise mit dem Makel der Weiblichkeit geboren sei. Von all dem wolle er absehen und seine Habe, vor allem aber seine Kamele, mehr oder weniger nach den Regeln der Tradition unter ihnen aufteilen.

Nach diesen Regeln müsse er, streng genommen, dem älteren Sohn fast alles, dem jüngeren fast nichts und der Tochter seine besten Wünsche hinterlassen, aber so seien die Zeiten nicht mehr, weshalb er Folgendes verfüge: Der ältere Sohn solle die Hälfte der Herde erhalten, der jüngere ein Drittel und die Tochter ein Neuntel, das sei besser als nichts. Dabei untersage er strengstens, die Tiere zu verkaufen. Sollten bei der Aufteilung der Herde Probleme auftreten, sei ein sachkundiger weiser Mann zu Rate zu ziehen, der dann auch die Erbschaft zu verwalten habe.

So sprach er und verschied. Die Erben beklagten ihn vorschriftsmäßig und fragten sich dabei, an was für ein Problem er wohl gedacht haben mochte, aber das merkten sie schnell. Als sie nämlich zur Herde gingen und der jüngere Sohn zusammen mit der Tochter die Kamele zählte, stellten sie fest, dass es sich bei der vererbten Herde um genau siebzehn Tiere handelte, keines mehr, keines weniger. Nicht dass der ältere Sohn die kleine Komplikation bemerkt hätte, mit der Zahl siebzehn wollte er sich genauso wenig befassen wie mit allen anderen. Seine jüngeren Geschwister sahen dagegen den Ernst der Lage: Wie sollte man die Hälfte von siebzehn Kamelen nehmen, wie ein Drittel oder gar ein Neuntel? Sie längs oder quer aufzuteilen, hätte ihren Wert doch drastisch gemindert, es schien schon angebracht, sie am Leben zu lassen, zumal ein Verkauf untersagt worden war. Also was in aller Welt sollten sie tun? Da es leider niemanden gab, den der jüngere Sohn hätte verprügeln können, weil der Urheber der Probleme schon tot und begraben war, hatten sie keine andere Wahl, als die letzte Vorschrift des letzten Willens zu befolgen und einen weisen Mann zu Rate zu ziehen.

Die weisen Männer waren damals auch nicht besser als heute die Anwälte und Wirtschaftsexperten, es gab eine ganze Reihe von Fehlschlägen und unsinnigen Vorschlägen zur Lösung des Problems. Aber nach einer Weile kam ein abgerissen aussehender alter Mann auf einem nicht weniger abgerissenen Kamel zu den Zelten der Erben geritten und bot seine Hilfe an. Ihr Problem, meinte er, habe man ihm im naheliegenden Dorf schon geschildert, es sehe schwieriger aus, als es sei, und sei im Handumdrehen zu lösen. Nun gut, den Spruch hatten sie schon mehrfach gehört, aber ein weiterer Versuch konnte die Lage kaum noch verschlimmern.

Der Alte führte also sein Kamel zu der Herde der siebzehn vererbten Kamele und stellte sie alle in einer Reihe auf, sein eigenes ganz hinten. Da waren es achtzehn. Dies seien nun achtzehn Kamele, sagte er, und keiner wollte ihm da widersprechen. Der ältere Sohn sollte die Hälfte der Herde erhalten, und die Hälfte von achtzehn Kamelen seien unzweifelhaft neun Kamele. Der ältere Sohn solle also die ersten neun Kamele nehmen und seiner Wege gehen. Nun ging es weiter, der Alte deutete auf den jüngeren Sohn und meinte, seine Erbschaft solle aus einem Drittel der Kamelherde bestehen, und da der dritte Teil von achtzehn ganz sicher sechs sei, möge er die nächsten sechs Kamele zu seinem Eigentum erklären und sich trollen. Das war einsichtig, der jüngere Sohn schnappte sich seine sechs Kamele und führte sie zu den neun Tieren seines älteren Bruders. Und nun komme er zur lieblichen Tochter des Verblichenen, deren Anteil an der Herde genau ein Neuntel betrage. Nun sei aber der neunte Teil von achtzehn ohne Frage zwei, also seien die nächsten beiden Kamele ihr zugesichertes Eigentum. Sie nickte, nahm ihre zwei Kamele und trottete zu ihren Brüdern.

Da standen sie nun, ganz unverhofft mit der Lösung ihres Problems konfrontiert, und wussten nicht, wie ihnen geschah. Siebzehn Kamele waren es gewesen, die man mit keinem Messer der Welt bei lebendigem Leib in ihre Hälfte, ihr Drittel und ihr Neuntel aufteilen konnte. Der Alte hatte sein Kamel dazugestellt, die achtzehnköpfige Herde nach den Vorschriften des Testaments aufgeteilt in drei Teile aus neun, sechs und zwei Kamelen, und da nun mal 9 + 6 + 2 = 17 ist, blieb sein eigenes abgewracktes Kamel stehen, er konnte es wieder an sich nehmen und hatte sich als ein echter problemlösender Weiser erwiesen.

In unseren Tagen hält sich in Deutschland unter den Herrschenden die Zahl der Weisen, die des Rechnens und sogar des Nachdenkens kundig sind, in Grenzen. 

Die Folgen sehen wir täglich. 

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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

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