Von Ekaterina Quehl
„Während des Treffens handelten Gorinov A. A. und sein Komplize vorsätzlich. In Kenntnis über die Rechtswidrigkeit und über die soziale Gefahr ihrer Handlungen, die Unvermeidlichkeit gefährlicher Folgen in Form der Untergrabung der Autorität und der Diskreditierung der derzeitigen Regierung und der Streitkräfte…; wissentlich, dass sie durch ihre Handlungen einen unbegrenzten Personenkreis über die Legitimität der Handlungen der Streitkräfte…während einer speziellen militärischen Operation irreführen und den Anschein illegaler, völkerrechtswidriger Aktivitäten der Streitkräfte…als Ganzes sowie ihrer staatlichen Behörden im Einzelnen erwecken und in Bürgern ein Gefühl der Angst, Beunruhigung und Unsicherheit gegenüber dem Staat hervorrufen, geleitet vom Motiv des politischen Hasses, ausgedrückt in verächtlicher, unfreundlicher, feindseliger, aggressiver Beziehung zu den handelnden Organen der Exekutive und Legislative…, in Anwesenheit von mindestens 5 Personen, die an der Veranstaltung teilgenommen haben und diesen Personen mündlich unter dem Deckmantel zuverlässiger Informationen vorsätzlich falsche Informationen mitgeteilt haben, die Daten über den Einsatz der Streitkräfte zum Schutz der Interessen des Staates und seiner Bürger und die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit beinhalteten…“
Nein, das ist kein Auszug aus einem Kafka-Roman und keine Anklage-Rede aus den Moskauer Schauprozessen von 1936-1938. Das ist ein Text vom 8. Juli 2022, der aus dem Gerichtsurteil gegen den Moskauer Stadtabgeordneten Alexej Gorinov stammt. Gorinov wurde zu sieben Jahre Haft verurteilt.
Aus dem Urteil geht hervor, dass Gorinov auf einer Versammlung mündlich bestimmte Informationen mitgeteilt hat. Er hat also etwas gesagt. Jetzt kann man sich fragen, was der Abgeordnete denn gesagt haben soll, wofür er zu 7 Jahren Haft verurteil wurde? Die Informationen müssen so gefährlich sein, dass er bei einem unbegrenzten Personenkreis das Gefühl von Angst vor dem Staat hervorgerufen hat. Hat er etwa Geheiminformationen verraten, nach denen Russland etwa in die NATO eintreten soll oder dass Russland sein ganzes Atomwaffenarsenal an Nordkorea verkauft hat?
Nein, Gorinov wurde zu 7 Jahren verurteilt, weil er bei einer Sitzung des Abgeordnetenrates vorgeschlagen hat, der in der Ukraine verunglückten Kinder zu gedenken und auf regionale Festtage zu verzichten, weil jetzt Krieg in der Ukraine herrsche und es unethisch sei.
Während des Prozesses befand sich der Abgeordnete wie ein Schwerverbrecher in einem Glas-Käfig. Gegen das Glas hielt er ein Blatt, auf dem „Braucht Ihr diesen Krieg noch?“ stand. Während der Verhandlung versuchte einer der Wächter immer wieder, das Blatt mit seinen Händen zu verdecken; Gorinov bewegte es immer wieder so, dass seine Worte sichtbar blieben. Als die russischen staatsnahen Medien darüber berichteten, haben sie das Wort Krieg auf den Fotos verpixelt.
Das Verfahren gegen Gorinov wurde aufgrund einer Denunziation eingeleitet. Der Denunziant fühlte sich beleidigt, weil seine Urgroßväter gegen den Faschismus gekämpft haben. Nachdem er sich die Video-Aufnahme von der Sitzung des Abgeordnetenrates angesehen habe, wandte er sich über das Internet an die Moskauer Staatsanwaltschaft und an andere zuständige Behörden, „weil ihn dieses Video beleidigte. Es habe ihn verletzt, er fühle sich ungerecht behandelt. Seine zwei Urgroßväter haben gegen den Faschismus gekämpft und deshalb glaube er, dass es falsch sei, das Land als faschistisches zu bezeichnen, das gegen den Faschismus gekämpft habe und aktuell kämpfe“, heißt es im Gerichtsurteil gegen Gorinov.
Bemerkenswert ist, dass die Richterin, die Gorinov für seine Worte zu 7 Jahren Gefängnis verurteilte, ein Jahr zuvor Angeklagte, denen ein Mord vorgeworfen wurde, auf Kaution frei ließ. Doch bekannt wurde sie für ihre Prozesse gegen Menschenrechtler und Oppositionelle. Unter anderem verhängte sie hohe Geldstrafen gegen zwei Menschenrechtsorganisationen, weil sie sich weigerten, sich als ausländische Agenten selbst zu brandmarken. Sie war auch die Richterin beim bekannten Prozess gegen den Regisseur Kirill Serebrennikow. Ihm und seinem Theater-Studio wurde Veruntreuung staatlicher Fördergelder vorgeworfen, wobei seine Anhänger überzeugt sind, dass es sich um politisch motivierte Verfolgung handelte.
Zum Glück gibt es in Russland noch kritische Stimmen, die sich trotz Verfolgungsrisiko zu dem Urteil gegen Gorinov äußern und somit den größten Respekt verdienen. Die absurden Entwicklungen des Prozesses wurden im Telegram-Kanal „Freiheit für Alexej Gorinov“ geschildert, einige Aktivisten gehen mit Protesten auf die Straße, kritische Stimmen hinterlassen Kommentare im Profil der Richterin auf dem Portal „Richter Russlands“. Hier nur ein paar Beispiele:
„Ich bin schockiert darüber, was aus meiner Heimat geworden ist! Meine Großmutter ist eine Heldin des Zweiten Weltkriegs und uns wurde in der Schule beigebracht, dass der Krieg eine schreckliche Hölle ist. Es ist unmöglich zu zählen, wie oft wir alle gesagt haben: „Für den Frieden! Frieden für die Welt!“. Und heute werden Menschen durch die Hände solcher Richter zu hohen Haftstrafen für solche Worte verurteilt. Und die echten Kriminellen laufen entweder frei herum oder bezahlen für angebliche Gerechtigkeit.
Schade! Entsetzlich! Schäm Dich! Wie kannst nur nachts schlafen? Das ist meine persönliche Meinung und Wertung.“
„Wie kann diese Frau nur nachts schlafen? Sie zerbrach das Schicksal eines ehrlichen und anständigen Menschen. Kein Krieg! Solche „Richter“ gehören vor Gericht. Dies ist meine persönliche Meinung und Wertung.“
„Sieben Jahre Haft für die Aufrufe zum Frieden! Lasst uns solche ‚Richter‘ nicht vergessen, bis bessere Zeiten kommen. Dies ist meine persönliche Meinung und Wertung.“
Das Urteil gegen Gorinov soll ein Exempel statuieren, dass es das Kreml-Regime mit dem neuen Gesetz ernst meint. Vor kurzem wurde gegen einen Bürger eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubeln verhängt, weil er das Wort „Spezialoperation“ in Anführungszeichen gesetzt hat. Inzwischen befinden sich mehrere Regime-Kritiker und Menschenrechtler in Haft, seit kurzem auch der Moskauer Politiker Ilja Jaschin, der nach dem Mord des Politikers und großen Putin-Kritikers Boris Nemzow einer der aktivsten Oppositionellen wurde, die Russland noch nicht verlassen haben.
Die Verfolgungen nach dem neuen Gesetz sprechen von einer massiven Angst der Regimes vor den eigenen Bürgern, die sich trauen, ihre Meinung zu dem Krieg in der Ukraine offen zu sagen. Russland erlebt erneut Zeiten, in denen das Wort eines Denunzianten ein Menschenleben kosten kann und lächerliche Vorwürfe, die nichts mit der Realität zu tun haben, zu vielen Jahren Lager und Gefängnis führen können. Millionen Menschen fielen der sowjetischen Repressionsmaschinerie zum Opfer. Dass diese finsteren Zeiten sich wiederholen können, hätte niemand gedacht.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge von anderen Autoren geben immer deren Meinung wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de.
Bild: kommesant.ruText: eq