Von Kai Rebmann
Die beiden Journalisten Tawfiq Rabahi aus Algerien und Faisal al-Qassem, der neben der syrischen auch die britische Staatsangehörigkeit besitzt, gehören im arabischsprachigen Raum zu den bekanntesten Vertretern ihres Berufsstandes. Rabahi schreibt regelmäßig für verschiedene arabischsprachige Zeitungen, Faisal al-Qassem arbeitet für den arabischen Nachrichtensender „Al Jazeera“ und moderiert dort unter anderem eine Talkshow. Mit ungewohnt kritischen Äußerungen, die von den deutschen Medien weitgehend ignoriert werden, haben sich Rabahi und al-Qassem nun in die Diskussion um die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen aus der Ukraine und der seit 2015 in Europa ankommenden Migranten und Flüchtlingen aus dem Nahen und Mittleren Osten eingeschaltet. Anstatt dem Westen ein Rassismus-Problem zu unterstellen, sollten die Araber zunächst vor der eigenen Haustür kehren, so der Tenor in den Aussagen der beiden Journalisten in der in London erscheinenden katarischen Tageszeitung „al-Quds al-Arabi“.
Tawfiq Rabahi bezeichnete die arabischen Migranten und Flüchtlinge in einem Kommentar als soziale, kulturelle und religiöse Belastung für die Gesellschaft in Europa. Für die daraus entstehenden Probleme seien sie aber zum größten Teil selbst verantwortlich, weil ihnen der Wille zur Integration fehle und sie im schlimmsten Fall sogar die Grundwerte ihrer Gastländer in Frage stellten. Den ukrainischen Flüchtlingen begegneten die Menschen in den aufnehmenden Ländern dagegen offener, da sie bereits zu den hiesigen Gesellschaften gehörten oder künftig gehören wollten. Rabahi äußerte zudem die Vermutung, dass arabische Länder im umgekehrten Fall überhaupt keine Flüchtlinge aus Europa bei sich aufnehmen würden.
Auch Faisal al-Qassem, der in seiner Heimat nicht unumstritten ist, glaubt, dass es sich die Araber mit einem pauschalen Rassismus-Vorwurf in Richtung der Europäer zu einfach machen. Der Westen zeige sich gegenüber den arabischen Migranten und Flüchtlingen deutlich empathischer und respektvoller als dies in den direkten Nachbarländern der Betroffenen der Fall sei. Man müsse sich anschauen, wie schäbig die arabischen Länder die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, dem Jemen, Libyen oder Afghanistan behandelt hätten. Er forderte die Leser auf, dies mit der Großzügigkeit zu vergleichen, die den Arabern bei ihrer Ankunft in Europa größtenteils entgegengebracht worden sei. Darüber hinaus verwies al-Qassem auf die fehlenden nationalen, ethnischen oder religiösen Bindungen zwischen Arabern und Europäern. Es sei daher weder überraschend noch verwerflich, wenn die Europäer ihren Glaubensbrüdern und „Cousins“ vielleicht etwas mehr helfen als anderen.
SPD-Politikerin kritisiert Zwei-Klassen-Gesellschaft bei Flüchtlingen in Deutschland
Zuletzt hat auch Reem Alabali-Radovan (SPD), Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, vor einer Zwei-Klassen-Gesellschaft beim Umgang mit den in Deutschland ankommenden Migranten und Flüchtlingen gewarnt. Bei Twitter schrieb sie am 6. April 2022: „Mit der ‚Welt‘ habe ich über die Situation der ukrainischen Geflüchteten, aber auch Geflüchteten aus anderen Regionen gesprochen.“ In besagtem Interview wird die Katholikin mit irakischen Wurzeln wie folgt zitiert: „Geflüchtete zweiter Klasse darf es nicht geben. Doch in direkten Gesprächen mit Schutzsuchenden zeigt sich mir, dass viele es anders erleben. Umso wichtiger ist nun, dass wir die im Koalitionsvertrag vereinbarten Verbesserungen im Bereich Aufenthalt und Integration schnell umsetzen.“ Mit ihrer Wortwahl verrät Alabali-Radovan, dass sie den Unterschied zwischen „Flucht“ und „Migration“ bzw. „Geflüchteten“ (oder „Schutzsuchenden“) und „Migranten“ entweder nicht kennt oder ihn schlichtweg ignoriert. Wenn aber eine Integrationsbeauftragte der Bundesregierung „Geflüchtete aus anderen Regionen“ und die Flüchtlinge aus der Ukraine in einen Topf wirft und davon ausgeht, dass die Gesellschaft in Europa in beiden Fällen quasi zwangsläufig dieselbe Reaktion zeigen muss, hat sie den Kern der Diskussion nicht verstanden und will ihn wahrscheinlich auch gar nicht verstehen.
Nachhilfeunterricht gibt es für Reem Alabali-Radovan bei Wikipedia. Der Begriff „Migration“ wird dort wie folgt definiert: „Als Migration wird eine auf Dauer angelegte räumliche Veränderung des Lebensmittelpunktes einer oder mehrerer Personen verstanden. Migration, die über Landesgrenzen hinweg erfolgt, wird als internationale Migration bezeichnet.“ Wenn die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung dann noch wissen will, was ein „Flüchtling“ ist, bekommt sie bei der Online-Enzyklopädie zu lesen: „Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet er (der Begriff Flüchtling, Anm. d. Autors) eine Person, die ihre Heimat oder ihren vorherigen Aufenthaltsort wegen politischer Zwangsmaßnahmen, Kriegen oder lebensbedrohlicher Notlagen vorübergehend oder dauerhaft verlassen hat. Häufig tritt der Sammelbegriff Flüchtlinge auf.“
Erhebliche Unterschiede zwischen Flüchtlingen aus der Ukraine und Migranten 'aus anderen Regionen'
Bei den „Geflüchteten aus anderen Regionen“, von denen die SPD-Politikerin spricht, handelt es sich laut oben ausgeführter Definitionen nicht selten um Migranten. Diese waren und sind oft männlich, jüngeren Alters und allein unterwegs. Viele von ihnen tauchten im Zuge der Migrationskrise 2015/16 nach ihrer Flucht durch mehrere sichere Drittstaaten auffällig oft ohne Ausweis oder sonstige Papiere an der deutschen Grenze auf und haben in der überwiegenden Mehrheit wohl nicht vor, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. In den meisten Fällen wird es sich vielmehr um eine „auf Dauer angelegte räumliche Veränderung des Lebensmittelpunktes“ handeln. Kaum zu verleugnen sind zudem die extremen kulturellen Unterschiede zwischen den Herkunftsländern der Migranten und den Ländern in Europa, die eine Integration deutlich erschweren. Dies gilt umso mehr, wenn es den Migranten schon am Willen zur Integration fehlt, worauf insbesondere Tawfiq Rabahi in seinem Beitrag in der „al-Quds al-Arabi“ hingewiesen hat.
Bei den Flüchtlingen, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine an den Grenzen der benachbarten Länder um Aufnahme bitten, handelt es sich hingegen um Frauen mit ihren Kindern, deren Männer bzw. Väter in der Ukraine zurückbleiben mussten, um ihr Land zu verteidigen. Den ukrainischen Flüchtlingen ist es letztlich auch egal, in welchem sicheren Land sie unterkommen, da sie ihre Heimat nur aufgrund „politischer Zwangsmaßnahmen, Kriegen oder lebensbedrohlicher Notlagen“ verlassen mussten. Sie hegen die Hoffnung, dass ihr Aufenthalt im Gastland nur „vorübergehend“ sein wird und sie lieber früher als später wieder in die Ukraine zurückkehren können, um ihr Land wieder aufzubauen und ihre Männer und Väter wieder in die Arme schließen zu können.
Es verbietet sich natürlich, die Flüchtlinge aus der Ukraine einerseits und Flüchtlinge und Migranten „aus anderen Regionen“ andererseits gegeneinander auszuspielen. Auch Flüchtlinge und Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten oder sonstigen Regionen dieser Welt können eine Bereicherung für die Gesellschaft in Europa sein. Zu den wichtigsten Voraussetzungen hierfür gehört an allererster Stelle der Wille zur Integration in die hiesigen gesellschaftlichen Strukturen. Dass die Deutschen, Polen, Tschechen und Ungarn den Ukrainern in kultureller, sozialer und ethnischer Hinsicht sehr viel ähnlicher sind als zum Beispiel den Arabern, kann man diesen nicht zum Vorwurf machen. Wer sich dann noch so ehrlich macht und den kleinen, aber feinen Unterschied zwischen Flüchtlingen und Migranten beachtet, wird verstehen, warum die Hilfsbereitschaft in Europa gegenüber den Flüchtlingen aus der Ukraine vielleicht doch etwas stärker ausgeprägt ist, als es in den letzten Jahren gegenüber den Migranten aus völlig fremden Kulturräumen der Fall war. Unbestritten bleibt dabei, dass insbesondere in den Jahren 2015/16 viele Menschen aus den Krisenregionen im Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika fliehen mussten. Diese sind in den meisten Fällen jedoch in einem Flüchtlingslager in der Nähe ihrer Herkunftsländer untergekommen, da sie sich die mehrere tausend Euro teuren Dienste von Schleusern in aller Regel nicht leisten konnten.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
Bild: Bumble Dee/ShutterstockText: kr