„Darf ich das?“ oder: Die Pandemisierung des Alltags Die Angst vor der Lockerung und einem Leben in Freiheit

Von Matthias Heitmann

Jüngste Umfragen zur Impfbereitschaft der Deutschen zeigen: Der Wunsch nach einer möglichst baldigen Impfung ist weiterhin sehr groß, viele Menschen zählen die Tage bis zu ihren Impfterminen. Zwar gibt es immer auch Sorge und Unsicherheit bzgl. der Qualität oder der Nebenwirkungen des einen oder anderen Impfstoffes, doch an der weit verbreiteten Impfbereitschaft besteht kein Zweifel. Es ist sogar so, dass eine erfolgte Impfung zu einem Ereignis wird, das manche öffentlich verkünden. Die sozialen Netzwerke laufen über von Einträgen, in denen Menschen stolz Injektionsvollzug melden oder ihre Profilfotos mit dem Hinweis „Geimpft“ versehen. Ebenso kursiert bereits die ironisch-sarkastische Behauptung, der Wirkstoff entfalte erst dann seine komplette Wirkung, wenn die Impfung auf Facebook per Bild- oder Videobeweis bestätigt wurde. Der Impfstatus wird zum neuen Persönlichkeitsmerkmal: Früher hieß es noch „Je suis Charlie“, heute heißt es: „Ich bin geimpft.“

Wenn man mit Menschen spricht oder liest, was sie von sich geben, so wird deutlich: Die zentrale Motivation, sich impfen zu lassen, entspringt der tiefen Sehnsucht danach, wieder mehr tun zu dürfen. Die Rückkehr zur Normalität, und erfolgt diese auch nur häppchenweise und unvollständig, treibt die Menschen geradezu an die Nadel. Dafür sind sie bereit, die Risiken, die bei der Verwendung taufrischer Impfstoffe unbestreitbar existieren, in Kauf zu nehmen. Interessant ist, dass die Impfung in erster Linie als Eintrittskarte in ein freudvolleres Leben angesehen und deswegen herbeigesehnt wird. Der Schutz vor einer Corona-Erkrankung scheint hingegen gar nicht mehr als zentrales Argument zu wirken, schon gar nicht der eigene Schutz, wenn, dann der von Risikogruppen.

Nach Corona: Angst als chronische Krankheit
Das Gefühl der eigenen Bedrohtheit tritt bei immer mehr Menschen in den Hintergrund – kein Wunder, denn die Zahlen bzgl. der Auslastung der Intensivstationen und auch der Todesfälle sind rückläufig. Es sind zunehmend indirekte oder aber diffuse Bedrohungen, die angeführt werden. So ist die Angst vor möglicherweise ansteckenderen Mutanten oder auch vor künftig auftretenden Mutanten eine Quelle fortgesetzter und in die Zukunft gerichteter Unsicherheit – obwohl natürlich für diese Szenarien völlig unklar bleibt, ob die existierenden Impfstoffe die individuelle Sicherheit bieten, die man sich erhofft. Doch es fällt auf, dass auch bei der politischen und epidemiologischen Legitimierung fortgesetzter Beschränkungen der Verweis auf evtl. künftig auftretende Mutanten zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Auch hier löst sich also die Debatte Stück für Stück von der tatsächlichen Lage im Hier und Jetzt und verlagert sich in Richtung einer Diskussion über präventive Einschränkungen zur Verhinderung oder Abmilderung heute noch unbekannter Risiken. Diese um sich greifende Haltung gerät in Konflikt mit jenen, die nun angesichts der zurückgehenden Zahlen der bisherigen Logik folgend die Rücknahme der Beschränkungen fordern.

Man könnte im ersten Moment denken, dass es ein Fortschritt ist, dass die Debatte eben nicht mehr rein auf Kriterien der Epidemiologie beruht, sondern stärker die menschgemachten sozialen Folgen der Pandemie in den Blick nimmt. Auch wenn dies zweifelsfrei wichtig und auch richtig ist, so hat diese Entwicklung durch die Art und Weise, wie diskutiert wird, doch auch eine Kehrseite. Das Bestreben der Politik, nicht mehr allein die Pandemiebekämpfung, sondern die Pandemieprävention als politische Richtschnur zu etablieren, zeigt einen besorgniserregenden Trend: Die „Pandemisierung“ des gesellschaftlichen Alltagslebens funktioniert inzwischen in breiten Teilen der Gesellschaft auch ohne den direkten Corona-Bezug.

Der Lockdown als allgemeinpolitisches Instrument
Nach über einem Jahr staatlich verordneter Verbotskultur ist diese mittlerweile recht vollständig absorbiert, ins Privatleben integriert und in gewisser Weise entpolitisiert worden. Die Popularität von Apps wie „Darf ich das?“, die den Menschen nun ortsbezogen und in Echtzeit anzeigt, was man gerade jetzt wo darf und was nicht, unterstreicht, wie tief dieses Denken mittlerweile verankert ist. Der Verordnungsstaat als Entwickler von Gaming-Gadgets – darauf ist nicht einmal George Orwell gekommen. Hier entwickelt sich spielerisch eine Kultur, in der es als selbstverständlich und trendy gilt, erst einmal schnell nachzusehen, ob man etwas darf oder nicht. Auch hier gilt wieder: In der Verkürzung und inhaltlichen Entleerung der Alltagsbeschränkung ist Corona gar kein Thema mehr. Anders formuliert: Der Anlass, die Lockdown-Kultur aufrechtzuerhalten, kann modifiziert werden.

Bestes Beispiel ist der neue Inzidenz-Wert von 20, der von Gesundheitsminister Jens Spahn für weitere Lockerungen im Sommer ins Spiel gebracht wurde. Je weiter man die Debatte entkernt und ihrer ursprünglich noch halbwegs nachvollziehbar begründeten Terminologie beraubt (50 „Fälle“ pro 100.000 können Gesundheitsämter noch nachverfolgen), desto willkürlicher können solche Festlegungen verändert werden. Warum nun Gesundheitsämter, die nach 15 Monaten Pandemie eigentlich besser ausgestattet sein sollten, nun plötzlich nur noch in der Lage sein sollen, 20 pro 100.000 nachzuverfolgen, vermag niemand zu erklären. Schlimmer noch: Diese Frage wird auch kaum noch gestellt, denn man ist ja froh um jede Ziffer, die die Grenzwerte nach unten gehen, warum auch immer.

„Darf ich das?“: Lebensregulierung per Gadget
Je abstrakter die Debatte und je unausgesprochener und selbstbezogener die Pandemie diskutiert wird, desto fester setzt sie sich im gesellschaftlichen Denken als neue Normalität fest. Es ist mittlerweile nicht mehr die Angst vor dem Virus, die den Zeitgeist prägt – es ist die Angst vor der Lockerung und vor dem Unbekannten, also die Angst vor einem Leben in Freiheit. Wenn dieses Level an grundlegender Verunsicherung und Erlaubnisabhängigkeit erreicht ist, dann ist der Lockdown endgültig zu einem politischen Instrument geworden, das frei einsetzbar ist. Denn das Befolgen des Lockdowns braucht dann keine konkrete persönliche Gefährdung mehr, es reicht ein einfacher, banaler und somit kollektiver Verweis auf etwaige gesellschaftliche Gefährdungen und individuelle moralische Verantwortung, um individuelle Freiheiten auszuhebeln.

In Politik und Medien mehren sich die Stimmen derer, die der weiteren Ablösung dieses Denkens und Fürchtens von der Covid-Pandemie das Wort reden, um die Lockdown-Kultur für andere Anlässe nutzbar zu machen. Schon seit vielen Monaten wird kontinuierlich darauf hingewiesen, dass der Wirtschaftslockdown den Himmel so schön blau mache, das Erreichen der politischen Klimaziele ermögliche, die Gesellschaft insgesamt entschleunige, und sich die Menschen wieder stärker auf das besännen, was angeblich wirklich wichtig sei. Derlei positive kollektive Atempausen künftig regelmäßiger und abgestuft für den Klimaschutz einzusetzen, ist bereits Bestandteil politischer Perspektivplanungen. In Zeiten, in denen ohnehin kaum Flugverkehr stattfindet, ein Verbot von Inlandsflügen ins Spiel zu bringen, ist kaum noch politisch riskant. Und wenn es dann noch gelingt, politische Abweichler als gesundheitsgefährdend für den gesellschaftlichen Organismus darzustellen, rückt plötzlich sogar die Beschneidung der Meinungsfreiheit in die Nähe eines Beruhigungsmittels gegen soziale Unruhe und Aufruhr – vielleicht demnächst sogar als automatisches und nicht deaktivierbares Alexa-Skill „Darf ich das sagen?“

Sind wir alle Ampelmännchen?
Dass zum Erreichen höherer Ziele bislang als unantastbar geltende Freiheiten ausgesetzt werden können, ist eine der zentralen Spätfolgen der Pandemiepolitik, die uns noch lange begleiten wird. „Darf ich das?“, „Bist du geimpft?“, „Sind wir angemeldet?“ oder „Gefährde ich damit das System?“ sind die neuen verinnerlichten Leitplanken einer Gesellschaft, in der dauerhaft aus pandemischen Gründen der Autopilot ans Lenkrad rückt. Der Blick in die Verbots-App droht, genauso selbstverständlich und „gelernt“ zu werden wie der Blick in den Rückspiegel. Es ist kein Wunder, dass, wenn es um die Regelung gesellschaftlicher Bewegungen oder individueller Handlungen geht, in allen möglichen Bereichen Begriffe aus dem Straßenverkehr verwendet werden. Egal, ob auf Fußgänger- oder Radwegen, beim Einkauf gesunder Lebensmittel oder eben beim Nutzen von „Grundrechten“ – überall sollen wir auf Ampeln achten, die uns signalisieren, was geht und was nicht. Das Schöne für Entscheidungsträger daran ist: Mit Ampeln diskutiert man nicht, denn selbst handelsübliche „Rotsünder“ stellen ja Sinnhaftigkeit und Autorität von Ampeln nicht grundsätzlich infrage.

Mit der systematischen Pandemisierung des Alltags werden wir schrittweise an ein von oben gelenktes Leben heranerzogen. Menschen, die bei einer Radtour allein durch den Wald oder bei einer Spritzfahrt im Cabriolet FFP2-Maske tragen, übertragen den eingeforderten Gehorsam der STVO auf die einst freie Gesellschaft. „Nur bei Grün, der Kinder wegen“, steht auf zahlreichen Straßenschildern. Wir sollten das nicht auf unser Leben übertragen. Wer nachts bei völliger Stille an einer leeren Kreuzung minutenlang an der roten Fußgängerampel stehenbleibt, weil er lieber kein Risiko eingehen möchte, galt mir noch nie als gesellschaftliches Vorbild. Daher appelliere ich an Ihre Vernunft und Ihren Stolz: Tun Sie mal wieder etwas Spontanes, Unregistriertes und Unangemeldetes, etwas, das schiefgehen kann, und ja, riskieren Sie auch mal wieder etwas, ohne vorher eine behördliche Genehmigung einzuholen. Und fragen Sie bitte nicht mehr so oft „Darf ich das?“, sondern mal wieder häufiger: „Warum soll ich das nicht dürfen?“ Holen Sie sich ihr Leben zurück, es gibt dafür keinen Lieferservice!

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Matthias Heitmann (Jahrgang 1971) ist freier Journalist, Buchautor und Kabarettist. Von ihm sind u.a. erschienen: „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (2015), „Zeitgeisterjagd spezial: Essays gegen enges Denken“ (2017) und „Schöne Aussichten. Die Welt anders sehen“ (2019). Zudem geistert er als „Zeitgeisterjäger FreiHeitmann“ mit eigenen Soloprogrammen über Kleinkunst- und Kabarettbühnen. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de. Sein Podcast „FreiHeitmanns Befreiungsschlag“ erscheint regelmäßig auf www.reitschuster.de.

 


Bild: Shutterstock/Thomas Kießling, www.lichtrichtung.de

Text: Gast

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