Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Das Grauen hat viele Gesichter.
In Francis Ford Copollas Film „Apocalypse now“ erhält während des Vietnamkrieges ein amerikanischer Offizier den Auftrag, den abtrünnigen Colonel Kurtz zu liquidieren, der sich von der US-Militärführung losgesagt hat und irgendwo im Dschungel ein eigenes Regime des Grauens führt. Der Offizier findet Kurtz, der offenbar zu viel Grauenhaftes erlebt und gesehen hat: „Ich habe das Grauen gesehen,“ sagt Kurtz, und seine letzten Worte lauten „Das Grauen! Das Grauen!“
Inzwischen kann ich mitreden. Auch ich habe das Grauen gesehen; nicht ganz so intensiv wie Colonel Kurtz, aber ebenfalls über alle Maßen beeindruckend. Man findet es in Form eines Wahlkampfvideos der Thüringer CDU, insbesondere ihres Spitzenkandidaten Mario Voigt, der wohl ein wenig darunter leidet, dass er mit einem Charisma gesegnet ist, das dem eines Schlucks Wasser bedenklich nahe kommt. Um das ein wenig auszugleichen, hat man ein Wahlkampfvideo gedreht, das seinesgleichen sucht. Es trägt den feinsinnigen Titel „Zucker oder Salz“ und ich muss vor dem Betrachten des Videos allzu empfindliche Leser warnen: Man braucht starke Nerven, um nicht in Wahnsinn oder Verzweiflung zu fallen. Für alle, die sich das eine Minute und dreiundzwanzig Sekunden lange Grauen nicht ungefiltert antun wollen, darf ich kurz die Handlung beschreiben und den großartigen Text wiedergeben, damit er der Nachwelt nicht verloren geht.
Zunächst sieht man nichts weiter als eine im Betrieb befindliche Kaffeemaschine, deren Produkt in eine Tasse geschüttet und anschließend von einer freundlich wirkenden Dame etwas fortgeschrittenen Alters aufgenommen wird. Dabei spricht sie die bedeutsamen Worte: „Zucker oder Salz, Herr Voigt?“ Nun sehen wir Mario Voigt mit einladendem Lächeln im Gesicht, der antwortet: „Zucker bitte. Salz schmeckt doch gar nicht.“ Und sofort wird wieder die Rentnerin gezeigt, die Platz nimmt und als Resultat einer gewissen Altersweisheit äußert: „Sehen Sie, manchmal sind die einfachsten Entscheidungen die wichtigsten.“ Sie fährt fort: „Wie damals, nach dem Mauerfall, wo wir alle mit angepackt haben. Wir, Thüringer, wissen doch, worauf’s ankommt.“
Inzwischen ist dem Regisseur wohl eingefallen, dass Voigt auch noch da ist, weshalb ein Schnitt auf den Spitzenkandidaten erfolgt. „Wir sind anständige und fleißige Leute,“ lässt er sich hören, und: „Und wir wollen die Probleme angepackt wissen, aber mit Anstand und Vernunft.“ Damit scheint er der älteren Dame aus der Seele zu sprechen, denn sie meint nun: „Wissen Sie, Herr Voigt, ich bin alt genug; wenn ich manche so reden höre, mach’ ich mir große Sorgen. Das hab’ ich alles schon erlebt!“ Was sie nun eigentlich gehört und erlebt hat, bleibt in dem Gespräch einigermaßen auf der Strecke, aber das macht nichts, denn mit gütigem Lächeln tröstet Voigt seine Gesprächspartnerin: „Wir Thüringer lassen uns doch nicht den Kaffee versalzen, oder?“
Damit endet der hochpolitisch-tiefschürfende Dialog, zu dem noch anzumerken ist, dass seine beiden Hauptdarsteller ein mimisches Talent und eine Natürlichkeit und Lebendigkeit zeigen, wie man sie sonst auf keiner Bühne und in keinem Film findet, weil solche Akteure es üblicherweise nicht zu einem Engagement bringen. Doch noch ist das Grauen nicht beendet. Nach einem kurzen Schwenk auf zwei Gefäße mit den Beschriftungen „Salz“ und Pfeffer“ – ging es nicht eigentlich um Salz und Zucker? – wechselt die Perspektive und der putative Landesvater Voigt übernimmt nun den Bildschirm in voller Größe. „Solche Gespräche,“ erfahren wir, „werden in vielen Küchen und vielen Wohnzimmern in Thüringen geführt,“ was ich nicht hoffen will, denn es würde Erschreckendes über das geistige Niveau der Thüringer offenbaren. „Denn diesmal geht es um mehr als Politik. Ihre Entscheidung prägt unser Land für die nächsten Jahre,“ was nicht wirklich erklärt, warum es wohl um mehr als Politik gehen soll. „Als Ihr neuer Ministerpräsident möchte ich mit Mut und Zuversicht führen und die konkreten Probleme unseres Landes angehen. Es ist unsere Heimat. Bringen wir Thüringen wieder nach vorne! Nicht nach links, nicht nach rechts, sondern nach vorn. Dafür bitte ich um ihr Vertrauen.“ Das alles in einer Weise vorgetragen, als ginge es um das Rezitieren eines Telefonbuchs, aber immerhin untermalt von dramatischer Klaviermusik.
Wer glaubt, er hätte es schon überstanden, irrt sich, denn man hat sich bei der CDU etwas ganz besonders Originelles einfallen lassen. Nach einer kurz eingeblendeten Aufforderung, am 1. September mit beiden Stimmen CDU zu wählen, und einer noch kürzeren Einblendung eines nicht weiter definierten Pausen- oder Was-auch-immer-Signals, sieht der geduldige Zuschauer einen kleinen, sonnenbebrillten Jungen, der in dem Tonfall, in dem man sich in der Grundschule eben gegenseitig beschimpft, ausruft: „Höcke ist doof! Richtig doof!“
„Ich habe das Grauen gesehen,“ kann sich mit Fug und Recht jeder sagen, der die knapp anderthalb Minuten überstanden hat. Ein kindischer Dialog, ohne jeden Inhalt, ohne jede Substanz, von dem man nicht behaupten kann, er befinde sich auf dem künstlerischen Niveau eines Schülertheaters der Unterstufe, da es keinen Grund gibt, Schülertheater derart zu beleidigen. Und dann eine Erklärung des Spitzenkandidaten, der nichts anderes zu sagen weiß, als dass er gerne gewinnen möchte, um die Probleme anzugehen. Er sagt nicht, welche Probleme, er sagt nicht, wie er sie lösen will, er sagt gar nichts und sondert nur belanglose Sprechblasen ab. Erst das Kind wird konkret und egal, wen es beschimpfen soll: Hier könnte man mit einem gewissen Recht von Kindesmisshandlung sprechen. Voigts einziges Argument ist allem Anschein nach ein Grundschüler, der laut ausruft, Höcke sei doof. Warum das ein Grund sein soll, augerechnet die CDU zu wählen und keinen ihrer Mitbewerber, erschließt sich dem Zuschauer nicht.
Der Film ist so klar und eindeutig in seiner Aussage, dass sich die Wahlkämpfer bemüßigt fühlten, eine seitenlange Interpretation anzuführen. Der Junge, so kann man lesen, „regt in seiner kindlichen Sprache und Emotionalität noch einmal dazu an, über die Auswirkungen der eigenen Wahlentscheidung nachzudenken. Es geht um das, was wir unseren Kindern hinterlassen. Um das, was dieses Land ausmacht. Um das, was Thüringen sein soll. Wir sind davon überzeugt: Im tiefsten Innern wissen das die Thüringer. Als CDU geben wir den Thüringern die Gewissheit, dass nur mit uns als führende Kraft eine stabile Regierung möglich ist und die Probleme konkret gelöst werden, dass wir mit Mut und Zuversicht für sie arbeiten und für ein Thüringen, auf das wir wieder stolz sein können.“ Dieses „auf dass“ ist kein Tippfehler meinerseits, das steht so im Text. Bei der CDU weiß man also ganz genau, was die Thüringer im tiefsten Inneren wissen und will ihnen die Gewissheit geben, dass nur die CDU alle Probleme lösen kann, wobei auch hier der leiseste Hinweis darauf, wie das wohl konkret funktionieren könnte, fehlt.
Ich erspare den Lesern, was man bei der CDU noch zu den Protagonisten „Die Oma“ und „Der Mario“ zu sagen hat; es ist nichts weiter als leeres Geschwätz, das jeder, der sich den Tag ein wenig verderben will, selbst nachlesen kann. Aber wie man den Jungen manipuliert hat, lohnt einen kurzen Blick. Wir erfahren: „Die Zukunft, die mit den Entscheidungen von heute leben muss. Der kleine Junge der sein ganzes Leben noch vor sich hat, ist seit einem Jahr in der Schule – vieles hat sich damit für ihn ganz konkret verändert. Neue Herausforderungen, neue Freunde und neue Ziele.“ So weit, so banal. Man fährt fort: „Er macht dem Zuschauer deutlich, dass Politik nicht nur das Hier und Heute in den Blick nehmen darf, sondern dass die Entscheidungen, die wir heute treffen, Auswirkungen für Jahre und Jahrzehnte haben.“ Das ist sicher wahr, die verheerenden Auswirkungen der Merkel-Politik werden uns noch lange begleiten und vermutlich auch die Lebenschancen des jungen Laiendarstellers mindern. Es ist jedoch nicht unmittelbar klar, inwiefern die Figur des Jungen das deutlich macht, außer durch den Umstand, dass er jung ist.
„Ein kleiner Junge,“ heißt es dann, „der in seiner kindlichen Sprache und Einfachheit zum Ausdruck bringt, was er von einer Politik der Ausgrenzung und Spaltung hält: gar nichts. Ihm ist auch als Grundschüler klar, dass die Erwachsenen mit ihrer Entscheidung in der kommenden Wahl auch viel für ihn bestimmen. Beim Dreh erzählte er der Filmcrew, dass sein bester Freund in der Schule einen Migrationshintergrund hat, er aus der Türkei stamme.“ Seit einem Jahr ist er in der Schule und hat Sinn und Zweck einer Wahl verstanden. Und wie es der Zufall will, hat er auch noch einen türkischen Freund. Man ahnt, was kommt. „Als ihm erklärt wurde, dass die AfD und Björn Höcke eine Politik machen, die seinen Freund aus Deutschland herauswerfen wollen, nur weil er eben Türke sei, fand der Junge das wortwörtlich „doof“, weil er dann nicht mehr mit ihm spielen könne und es doch egal sei, woher sein Freund komme. So entstand der Nachspann, in dem der Film mit der einfachen Sprache eines Kindes nicht nur die Wichtigkeit von politischen Entscheidungen für die Zukunft unterstreicht, sondern deutlich macht, was die Politik eines Höcke für jeden Einzelnen bedeuten wird.“ Und wieder verwenden sie das inzwischen sattsam widerlegte Potsdam-Narrativ, nach dem Türken aus Deutschland geworfen werden sollen, nur weil sie Türken sind. Falls die Geschichte des kindlichen Hauptdarstellers nicht ohnehin von vorne bis hinten erlogen ist, wurde dem Kind gegenüber mit einer plumpen Lüge operiert, um es zu einer einigermaßen emotionalen Reaktion zu veranlassen. Demokratische und seriöse Politik wie aus dem Lehrbuch.
Mir ist nicht klar, ob man es noch dümmer machen kann. Die Angst vor dem teuflischen Höcke spricht aus jedem Satz, aus jeder Sekunde dieses Videos, das man weniger dem Wahlkampf als dem Wahlkrampf zuordnen sollte. Wie auch immer Höcke denken mag, was auch immer er vorhaben könnte: Mit solchen Lächerlichkeiten, mit derart plumpen und infantilen Methoden wird man den CDU-Kandidaten sicher nicht als ernstzunehmende Größe etablieren, sondern nur als angstgetriebenen und farblosen Funktionär. Eine bessere Wahlwerbung hätte sich die gesamte Konkurrenz der CDU nicht ausdenken können.
Samuel Becketts Stück „Warten auf Godot“ zählt man zum „absurden Theater“ und Voigts Werbespot hat es sich verdient, in die Riege der absurden Videos aufgenommen zu werden. In dem Stück geschieht nicht allzu viel, die beiden Protagonisten Wladimir und Estragon, warten auf einen Mann namens Godot, der niemals erscheint. Und im Lauf des Stückes fragt Wladimir: „Was sollen wir also machen?“ Estragons Antwort: „Gar nichts. Das ist gescheiter.“
In der Thüringer CDU hätte man vielleicht Samuel Beckett lesen sollen.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Bild: Screenshot Video zuckerodersalz.de/