Von Ekaterina Quehl
Neulich war ich in einem Laden, in dem man mir einen Rabatt anbieten wollte, wenn ich Ukrainerin gewesen wäre. „Vielen Dank, ich bin eine Russin“, sagte ich.
„Umso mehr sollten Sie einen Rabatt von uns erhalten. Ich verstehe gar nicht, wieso mein Chef nur den Ukrainern einen Rabatt anbieten will!“
Ich sagte dann etwas irritiert: „Vielleicht, weil es den Ukrainern jetzt schlechter geht als den Russen“.
„Aber wieso soll es den ukrainischen Flüchtlingen hier schlechter gehen als den Russen? Sie bekommen doch alles hier! Ich – fast alle hier im Laden – unterstützen Putin. Ein guter Mann!“, sagte er dann. Auf meine Frage, warum Putin ein guter Mann sein soll, antwortete er, dass er viel für sein Volk tut und es ihm nur um den Schutz seines Landes geht und er deshalb die Ukraine angreifen musste. Ich fragte mich, wie dieses ganze Kreml-Gelee in den Kopf des jungen Verkäufers geraten konnte. Schaut er vielleicht jeden Abend Nachrichten im russischen Ersten Kanal?
Als ich meinen russischen Freunden von dem Vorfall erzählte, haben sie nur geschmunzelt. Für sie ist es schlicht unbegreiflich, wie man die Narrative der russischen Propaganda für bare Münze nehmen kann. Niemand, der beim gesunden Menschenverstand ist, kann diese absurden Lügen ernst nehmen.
Dennoch ist aktuell in Deutschland das Phänomen der sogenannten Putin-Versteher zu beobachten – Menschen, die Verständnis für die Handlungen Putins im Angriffskrieg gegen die Ukraine aufbringen. Folgende Widersprüche sind in meinen Augen in deren Argumentation bei Verteidigung von Putin besonders bezeichnend:
Putin-Hasser ist gleich Russland-Hasser
Der erste Widerspruch besteht darin, dass die sogenannten Putin-Versteher eigentlich keinerlei Verständnis für russische Menschen haben. Es ist daran zu erkennen, dass sie Kritik an Putin mit Kritik an Russland und seinen Landsleuten gleichsetzen und scheinbar nicht in der Lage sind, diesen doch sehr klaren Unterschied zu sehen. Putin und sein Regime zu verurteilen heißt nicht Russland-Hasser zu sein. Sehr viele Russen, und nicht nur sie, verurteilen das Regime Putins, aber sie lieben Russland. Die freien kritischen Journalisten, die allesamt unmittelbar nach dem Kriegsanfang per Gesetz mundtot gemacht wurden, die Oppositionellen, die verhaftet wurden bzw. ins Ausland umgezogen sind, einfache Menschen, die bei gesundem Menschenverstand sind und einen festen Moral-Kompass haben – sie trennen Land und Regierung sehr klar.
Haben sich die sogenannten Putin-Versteher gefragt, was dieser Krieg eigentlich für viele russische Menschen bedeutet? Dass wir ein grenzenloses Fremdschämen empfinden für die Verbrechen russischer Soldaten in der Ukraine. Dass wir versuchen, den Ukrainern zu helfen, in dem Wissen, dass es dabei niemals ums Begleichen der Schuld gehen darf. Denn egal, wie stark wir helfen, wir werden die Schuld für diese Verbrechen niemals begleichen können. Und obwohl wir nichts haben, weshalb wir uns schämen müssen, schämen wir uns dennoch. Wissen eigentlich die sogenannten Putin-Versteher, dass für normale Russen dieser Krieg bedeutet, immer mit dem Gefühl zu leben, als ob alles Gute, was Russland in seiner Geschichte, Literatur, Musik, Sprache und Kunst der Welt zu bieten hat, mit diesem Krieg völlig entwertet wurde? Und wir nur hoffen können, dass dies die restliche Welt nicht so empfindet wie wir. Aber all das ist für uns absolut nebensächlich, denn es geht uns gut. Zumindest unvergleichlich besser als den ukrainischen Menschen und weil wir wirklich nichts haben, weshalb wir uns beklagen sollen.
Russische Prawda versus American Life
Den zweiten Widerspruch sehe ich in der blinden Verteidigung des Kremls, wenn dieser über apokalyptische Drohungen seitens der USA und der NATO an Russland erzählt. Die USA hätten die meisten Angriffskriege geführt und stellen auch durch ihre Verbundenheit mit der Ukraine eine besonders große Gefahr für Russland dar. So dass Russland sich bedroht fühlt und dem Land nichts anderes übrig blieb, als die Ukraine selbst präventiv anzugreifen, um einem geplanten Angriff der NATO zuvorzukommen. So beteuern das die russischen Nachrichten im Ersten Kanal.
Ganz ohne auf historische Hintergründe und ähnliche Einstellungen gegenüber den USA hier in Deutschland einzugehen, möchte ich an dieser Stelle nur eine einzige Frage stellen. Wissen die sogenannten Putin-Versteher eigentlich, dass die meisten Akteure, die in Russland über die Bedrohung seitens der USA sprechen, sich in einer engen materiellen Verbundenheit mit ihnen befinden? Es ist kein Geheimnis, dass viele Politiker und kremlnahe Funktionäre Russlands ihre Aktiva in den USA haben und im Besitz von Immobilien und sonstiger Güter dort sind. Dass sie ihre Kinder zum Studium in die USA schicken und in großem Stil US-amerikanische Produkte und Dienstleistungen konsumieren, die dem russischen Normal-Verbraucher gar nicht zugänglich sind? Wenn doch so eine große Gefahr seitens der USA Richtung Russland ausgeht, warum verlagern diejenigen, die über diese Gefahr am lautesten schreien, ihren eigenen und den Wohnsitz ihrer Kinder sowie ihren elitären Konsum genau dorthin?
Abgesehen von der moralischen Seite, wenn man in diesem Kontext überhaupt von Moral sprechen kann, sieht für mich die große Amerika-Frage sehr widersprüchlich aus. Und ich frage mich, wieso dieser Widerspruch den Putin-Verstehern bis jetzt nicht aufgefallen ist.
Neutralität jenseits des Zumutbaren
Und schließlich das letzte Thema, das mich bei dem Putin-Versteher-Trend beschäftigt. Nämlich die Abwägungen im Stil „Man sollte doch neutral bleiben und sich immer die beiden Seiten anschauen“. Sicher, man sollte es tun. Immer. Aber man sollte es im Rahmen des Zumutbaren tun.
Wer definiert aber, was zumutbar ist? Auf der Ebene eines demokratischen Staates – so zumindest dachte ich immer – sollten dazu die Verfassung und die Gewaltenteilung dienen und auf der menschlichen Ebene der Moral-Kompass und der gesunde Menschenverstand.
Deshalb sieht beispielsweise das Strafrecht eines demokratischen Staates vor, dass ein Verbrecher für seine Taten verurteilt werden soll. Neutral zu sein würde in dem Sinne bedeuten, dem Verbrecher Rechtsschutz anzubieten, genau festzustellen, was, wie und warum er eine Straftat begangen hat, die möglichen mildernden Umstände zu berücksichtigen und letztlich ein Urteil zu fällen. Neutralität würde aber nicht bedeuten, dem Gericht zu sagen, es soll den Verbrecher freisprechen, weil dieser behauptet hat, er sei selbst ein Opfer und sehe seine Tat als Verteidigung, weil er glaubt, das Opfer habe ihn später angreifen wollen, und weil er es deshalb präventiv selbst überfallen hat.
Lassen Sie mich das, was in der Ukraine geschieht, in einem fiktiven Szenario auf Deutschland übertragen. Wäre es beispielsweise zumutbar, über Neutralität zu reden, wenn Putin Deutschland wegen der ganzen Nazis hier angreifen würde? Besonders in den letzten zwei Jahren sollen sie sich doch hier im Gewand der sogenannten „Corona-Leugner“ breitgemacht haben. Könnten sie möglicherweise eine große Gefahr für die ganzen west- und osteuropäischen Länder und vielleicht sogar für Russland darstellen? Wäre diese Gefahr möglicherweise so groß, dass Putin nichts anderes übrig bleiben würde, als Deutschland anzugreifen? Präventiv, versteht sich natürlich. Zumal die Deutschen eigentlich gar keine Deutschen, sondern schon immer aufgrund der gemeinsamen historischen Vergangenheit Russen gewesen wären, und diejenigen, die das anzweifeln, wären rechtsradikal.
Und sollte Deutschland sich verteidigen wollen und andere Staaten um militärische Hilfe bitten, so wäre das entschieden zu verurteilen, weil militärische Hilfe mehr Waffen bedeutet und mehr Waffen – keinen Frieden, sondern einen längeren Krieg.
Um das Szenario weiter zu entwickeln, wären noch die Medien und Politik der Nachbarländer zu berücksichtigen. Denn würden sie behaupten, die Russen zerstören deutsche Städte und bringen friedliche Menschen um, so hätte man doch der Neutralität halber sagen müssen, dass alles nicht so eindeutig sei und man alles von beiden Seiten betrachten müsse. Da würde es dann auch noch andere Quellen geben, die behaupten, in Deutschland seien es die Rechtsextremen selbst, die ihre friedliche Bevölkerung als Schutzschild benutzen, um von der Befreiungsarmee Russlands nicht umgebracht zu werden. Diese Quellen sollte man zumindest berücksichtigen, denn sie würden ja sehr plausibel klingen. Schließlich wären ja die rechtsextremen Entwicklungen in Deutschland besonders in den letzten Jahren besorgniserregend geworden; die historische Last wurde leider niemals vollständig aufgearbeitet und viele Deutsche neigten immer noch zum Rechtsextremismus. Deshalb könnte an solchen Behauptungen etwas dran sein und deshalb sollte man am besten einfach niemandem glauben.
Manchmal muss man leider das Bild mit so einem Szenario ins Absurde treiben, um Menschen auf den Boden der Realität zurückzuholen. Und die Realität ist leider so, dass das Regime meines Landes ein anderes Land angegriffen hat und dort einen Krieg führt. Und es ist der erste Krieg in der Geschichte der Menschheit, den man praktisch live beobachten kann und in dem der ganze Terror ohne Zeitverzug zu sehen ist. Deshalb können sehr viele Menschen sehr schnell verstehen, was aktuell passiert und es auch sehr schnell einschätzen.
Putin-Versteher – und ich spreche nicht von den Trollen, von denen Sie sehr viele Kommentare unter diesem Beitrag finden werden, sondern von solchen, die aus innerer Überzeugung Putins Handlungen verteidigen – werden ihre Gründe für ihre Einstellung haben. Und ich respektiere diese Gründe, denn wahrscheinlich sind sie auf einen freien demokratischen Geist, Pazifismus, Pluralismus, Enttäuschung über die undemokratische Entwicklung in Deutschland und Angst vor einem Krieg zurückzuführen. Nur sollten sie vielleicht in Betracht ziehen, dass derjenige, für dessen Handlungen sie so ein großes Verständnis aufbringen, weder seinen Landsleuten noch der restlichen Welt bedauerlicherweise etwas von dem anzubieten hat, was ihnen wichtig ist: Putin hat weder mit Pazifismus etwas am Hut, noch mit Demokratie, und er war es, der den Krieg nach Europa zurück gebracht hat.
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Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de.
Bild: pixcite/ShutterstockText: eq