Chronik einer Krankheit
Corona macht krank. Darüber berichten wir. Geschichten, die es nicht in die Medien schaffen. Die Serie „Kollateralschaden“ basiert auf Berichten Betroffener der Coronapolitik. Damit keiner sagen kann: „Das haben wir nicht gewusst!“
Menschen, die aus Schachteln essen
Von Johanna und Frank Wahlig
Wie schnell man sich daran gewöhnt: an den Dreck, den Müll, die Verwahrlosung ehemals öffentlicher Orte und Plätze. Das ist kein Kollateralschaden mehr, weil Kneipen, Restaurants geschlossen sind … das ist normal. Iss aus dem Pappkarton im Stehen, trink aus dem Plastikbecher im Gehen und wirf es einfach weg. Und iss und trink tunlichst allein.
In den Parks in Berlin-Mitte ist der Rasen zertrampelt, Hundekot und Menschenkot, Plastik und Masken überall. Die Müllwerker legten schließlich extra Schichten ein. Sie binden schwarze Müllsäcke an die längst zu kleinen Müllcontainer. Aufkleber fordern die Menschen auf, ihren Müll mitzunehmen. „Nice try.“ Der Müll bleibt im Park, wenn die Menschen ihre Pappen leergefuttert haben.
In der Mittagszeit kommen sie alle zum Essen aus Papp- und Plastikschachteln. Das ist das neue Normal. Mit Anzug oder Jogginghose. Sitzen wie die Spatzen da im Park. Die Frage, ob Essen etwas mit „Würde“ oder gar „Kultur“ zu tun hat, stellt sich nicht mehr. Dann stehen sie auf und gehen an ihre Bildschirme zurück. Zoom in die digitale Arbeitswelt. Die richtigen Spatzen haben jetzt ihre Zeit.
Es gibt viele kleine Parks in Deutschland. Es gibt überall Menschen, die aus Schachteln futtern.
Menschen, die an Bäume pinkeln
„Wo sollen die denn auch hin, was sollen die denn sonst machen?“, sagt eine ältere Frau, die ihr Hündchen im Park ausführt. Auf Bänken übernachten Menschen aus Osteuropa. Die Jungs sind freundlich, gelegentlich betrunken, oft laut. Tagsüber verstecken sie ihre Schlafsäcke und Habseligkeiten hinter der Hecke. Gegen Abend kommen junge Leute aus der Umgebung. Sie bringen einen Kasten Getränke mit und stehen rum und trinken. Sie kicken mit einem Leuchtball auf dem ehemaligen Rasen. Dann pinkeln sie an die Bäume. Viele tun das, auch tagsüber. Vor den Terrassen der geschlossenen Parkcafés verkaufen Schwarzafrikaner Getränke aus einer Aldi-Tüte. In der Unterführung daneben wurde im Herbst ein 13-Jähriger erstochen. Über die Hintergründe wird kaum berichtet. Die osteuropäischen Parkbankschläfer sammeln leere Flaschen und Dosen auf und tragen sie zum Edeka-Markt. Ein neues kleines Geschäftsmodell. Das Café an der Ecke verkauft Getränke im schick bedruckten Pappbecher. Toiletten dürfen nicht benutzt werden. Verboten! Vor dem Eingang eines früheren Szeneclubs in der Unterführung campieren Männer.
„Wo sollen sie denn sonst hin?“, sagt die Frau mit dem Hündchen. Sie sagt auch, „es stinkt“. Ja, es stinkt. Das ist so in der geschlossenen Corona-Gesellschaft in Berlin-Mitte.
Da gewöhnt man sich dran. Eine junge Frau hat sich im Gebüsch erleichtert. Sie zuckt mit den Schultern und lächelt verlegen, als sie sich beobachtet weiß. Schamgrenzen von vor Corona sind aufgehoben.
Zoom ist Doom: Verhängnis am Bildschirm
Da hängen Plakate. Ein Privattheater wirbt für sein Programm: Online ab 19 Uhr im Stream.
Eine Freundin macht per WhatsApp auf Hauskonzerte aufmerksam. Wir sollen anklicken. Klicks sind die neue Währung. Die Musiker bräuchten Unterstützung, Zuhörer und ein Zeichen von all denen da draußen, dass sie als Künstler noch nicht gänzlich überflüssig und vergessen seien.
Das Gorki Theater in Berlin-Mitte ist so etwas wie die theatralische Fackel des Fortschritts und der Diversität. Wo das Gorki ist, da ist vorne. Jetzt ist das Gorki geschlossen. Schon lange. Es geht nicht mehr um Aufklärung über die richtige Haltung, sondern ums Überleben. Deshalb spielt das Ensemble – online. Mittwochs und freitags ab 19.30 Uhr. Ein Onlinekaufhaus der Kultur. Theater, das war einmal. Sinnlichkeit, Vorfreude, Lebensfreude und zwei Stunden Erleben. Dabeisein mit anderen. In der neuen Welt sitzt der Zuschauer zu Hause, vielleicht im Jogginganzug mit einem Döner in der Faust. Die Kamera des Gorki zeigt, was man zu sehen hat. Nicht mehr. Die Freiheit des Sehens und Hörens, auch die des „Sich-Verweilens“ oder Langweilens ist dahin. Der Sitznachbar im Theater stört und riecht nicht mehr. Allenfalls der Hund nervt zu Hause, weil er in den kleinen Park in Mitte möchte oder ein Stück vom Döner.
Ist das Kultur oder kann das weg?
Ein solches Theater stirbt zu Recht. Ist das noch Kultur, oder kann das weg? Wo ist die Frechheit der Schauspieler, Monologe im Freien aufzusagen? Wo ist die Fantasie des Widerstehens geblieben? Eine Kulturstaatsministerin bei Merkel verteilt Geld an Kulturschaffende, die nichts mehr zu schaffen haben und warme Worte der Hoffnung auf irgendwas. Und es funktioniert.
Nicht nur in Berlin-Mitte, im ganzen Land.
Die Freundin mit dem WhatsApp-Konzerttipp schreibt auch, dass sich einer ihrer Bekannten aus dem Kulturbereich das Leben genommen habe. Der vierte Selbsttöter, den sie kennt, schreibt sie. Dass sie traurig und verzweifelt sei, schreibt sie auch, unsere Freundin.
Die Kanzlerin mit Raute und Hosenanzug hat online mit „Kulturschaffenden“ gesprochen. Die Kanzlerin sagt, sie wisse um Belastungen und Frust. Aus Frust sterben manche „Kulturschaffende“, Madame.
Gesehen haben wir die Freundin seit Monaten nicht. Aber virtuell, in den sozialen Netzwerken, sind wir uns nah. Die neue Nähe der digitalen Welt. Das ist ein wenig kalt, aber was soll man machen? Wie schnell man sich daran gewöhnt.
Kleine Fluchten … überall
Vor Tagen gab es eine Demonstration gegen die Verschärfungen der Coronamaßnahmen. Als Journalisten dürfen wir dahin gehen, ohne rechts zu sein. Wir gucken halt nur.
In Berlin-Mitte gibt es hinter lauter Masken kein Lachen mehr. Bei der Demonstration vor dem Brandenburger Tor trugen die Menschen keine Masken und sie haben sich angelächelt. Gesichter, bloß und frei. Offene Gesichter. „Ich bin hergekommen, weil ich mal wieder Menschen ohne Maske vor Mund und Nase sehen wollte“, sagte ein älterer Mann. „Das tut sowas von gut.“ – „Ein guter Grund“, antworten wir, und lachen miteinander. Später wird die Demonstration von der Polizei aufgelöst, wegen Verstoßes gegen die Maskenpflicht.
„Alles Coronazis da“, urteilt die Tochter eines Bekannten. Sie habe eine Panikattacke bekommen angesichts all dieser Coronazis. Sie hat ihnen dann zugerufen „Wir impfen euch alle!“ Ein kleiner, tapferer Antifa-Spruch. Das Mädchen ist charmant links auf eine energische, aber unbeholfene Art. Ihre Freunde, mit Maske natürlich, haben das Mädchen getröstet. Ob die Freunde unter der FFP2-Maske dabei gelächelt haben, bleibt ihr Geheimnis.
Vor der Ausgangssperre wird aufgegessen
In der Nähe des Parks in Berlin-Mitte gibt es einen Weinhändler. Er macht gute Geschäfte. Auch mit uns. Abends tragen die braven Bürger hinter der Maske Weinflaschen nach Hause. Vielleicht, um online die neueste, aufregende Produktion des Gorki Theaters zu sehen? Manche tragen den Wein auch nach Hause, weil sie Gäste erwarten. Wenn die Vorhänge geschlossen sind, dann stehlen sie sich ein wenig normales Leben. Vor der Ausgangssperre muss aufgegessen und ausgetrunken sein. Von Tellern und aus Gläsern. Und wenn nicht? Dann muss der faule Hund den Begleiter spielen. Der Hund gewöhnt sich nur mürrisch daran.
Wer aus seinem beruflichen oder privaten Leben einen „Kollateralschaden“ melden möchte: Vertraulich und persönlich, per E-Mail an [email protected]
Text: Johanna und Frank Wahlig
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