Die Große Schlacht Welche Alternativen besitzt die Ukraine?

Ein Gastbeitrag von Annette Heinisch und Gunter Weißgerber

Wenn Mariupol komplett fällt, droht ein Dominoeffekt. Dann könnte die russische Armee eine Offensive im Donbas starten. Vom Norden, Osten und vom Schwarzen Meer aus. Sie versucht jetzt schon die ukrainischen Kräfte zu spalten, örtlich zu binden und zu dezimieren. Wenn das gelingt, könnte die russische Armee bis Saporischschna durchmarschieren, dann bis Mykolaev, dann bis nach Moladavien, an die rumänische Grenze und nach Odessa.

Die große Schlacht im Donbas ist also eine Vorentscheidung, ob Putin ’siegt‘ oder eine empfindliche Niederlage einstecken muss. Wenn er siegt, sieht die politische Landkarte Europas vollkommen anders aus. Dann beherrscht Russland das Schwarze Meer, kann Anrainerstaaten wie Georgien, Moldawien, aber auch Rumänien und Bulgarien destabilisieren, finnlandisieren etc., wie jetzt schon in Ungarn zu beobachten. Auch die Türkei ist betroffen, und der ganze asiatische Raum.
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Putin hat die letzten 2 Wochen des taktischen Rückzuges genutzt, um neu aufzurüsten – der Westen, insbesondere Deutschland hat in dieser Zeit viel diskutiert. Es könnte sich herausstellen, dass es diese zwei Wochen waren, die der ukrainischen Armee an Waffenlieferungen fehlten, um die Schlacht im Donbas zu ihren Gunsten zu wenden, so der Historiker Christian Booß im Aufarbeitungsforum Heute und Gestern.

Mittlerweile in Deutschland: Die Aufarbeitung der Verstrickungen der deutschen Politik mit Russland hat in Ansätzen begonnen. Wieder einmal wird hinterher gefragt: Wie konnte das nur passieren? Ja, wie nur? Weil Deutschland schon länger den Kompass verloren hat?

So ganz überzeugt die scheinbar bessere Erkenntnis nicht. Die Feststellung der Bibel, dass man Menschen nicht an ihren Worten oder Absichten, sondern an ihren Taten erkennt, ist klug. Die Taten sprechen nämlich eine eindeutige Sprache, die Anhänglichkeit zu Russland ist mitnichten verschwunden, sie hat sich nur verkleidet. Wie anders kann man es bewerten, dass Kanzler Scholz unsere Außenministerin für eine Bundestagsabstimmung über die Impfpflicht, bei der es auf ihre Stimme nicht einmal ankommt, von einem Ukraine–Gipfel der Nato wegbeordert? Und wie abwegig sind die Debatten um die Lieferung von russischem Gas, wo doch jedem auch nur halbwegs Risikokompetenten die zwingende Notwendigkeit überdeutlich sein muss, sich sofort vom russischen Gas unabhängig zu machen? Ist denn wirklich noch niemand auf den Gedanken gekommen, dass Putin uns das Gas nach seinem Belieben abdrehen kann? Und dass er dies tun wird, wenn ihm die Einnahmen (wie von manchen behauptet) völlig egal sind? Dass er es als Mittel der Unterwerfung selbst dann tun wird, wenn er das Geld eigentlich benötigt?

Der Verhandlungsexperte Matthias Schranner, der unter anderem Konzerne und Regierungen bei schwierigen Verhandlungen berät, wurde um seine Einschätzung gebeten:

Vor jeder Verhandlung entwickelt man aus verschiedenen Szenarien das wahrscheinliche. Wenn man es mit jemandem zu tun hat, der seine Gegner vergiften oder erschießen lässt, muss man annehmen, dass ein anderes Wertesystem vorliegt, und seine Vorgehensweise entsprechend anpassen. … Man muss in einem solchen Fall vom Worst Case ausgehen. Das war der erste große Fehler in der Ukraine. Man ging von dem Szenario aus, das nach unserem Denken am wahrscheinlichsten schien. Putin würde seine Truppen nur aufmarschieren lassen, um dann aus einer starken Position seine Forderungen durchzusetzen. Deshalb schickte man keine Waffen, um ihn nicht zu reizen und dadurch einen Angriff zum wahrscheinlichsten Szenario zu machen. Das war falsch… Aber für einen Worst Case braucht es immer eine Abschreckung. Dabei geht es nicht darum, was gesagt, sondern was geglaubt wird. Der Verhandlungsgegner muss glauben, dass ihm Konsequenzen drohen, die ihm schaden würden. Wenn Putin hört, dass Deutschland alte Helme schickt, wird er dadurch eher ermuntert, einzumarschieren. Das Signal war falsch. Drohen ist nicht hilfreich, aber es braucht eine Abschreckung… Vor dem Einmarsch in die Ukraine hätte man verhandeln können. Nun fehlt dafür die Basis. Eine Verhandlung ist nur möglich, wenn man etwas anbieten oder etwas wegnehmen kann. Es braucht auf der Gegenseite die Notwendigkeit, zu verhandeln. Zurzeit kann man Putin nichts anbieten, dafür ist es zu spät. Man kann ihm höchstens noch etwas wegnehmen.

Diese Einschätzung ist zutreffend. Schon längst muss klar sein, dass Putin und auch die Mehrheit in Russland ein anderes Wertesystem haben. Gewalt ist das erste Mittel der Wahl, nicht das letzte und schon gar nicht wird es ausgeschlossen.

Wladimir Putin verachtet Schwäche und setzt voll und ganz auf Stärke. Die Schwachen würden geschlagen, und nur die Starken geachtet, das sei seine wesentliche Lektion aus seiner ‚Straßenuniversität‘, wie er seine Kindheit in den Hinterhöfen Leningrads einst bezeichnete. Dort herrschte Faustrecht. Dem hängt Putin immer noch nach. Entscheidend sei nicht, ob man Recht habe, sondern ob man stark genug sei, sich das Recht zu nehmen, sagte er einmal.

Die Schlüsselfrage ist: Abschreckung oder Appeasement, also Zurückweichen. Meine Überzeugung: Appeasement, also Zurückweichen, wird zu noch mehr Angriffen führen…. Würde Putin die Ukraine erobern, würde er sich damit nicht zufriedengeben. Und der nächste Krieg würde noch gefährlicher, so der Journalist und Russlandkenner Boris Reitschuster.

Szenarien für Deutschland

Das heißt für Deutschland: Die von Hochmut geprägte Frage, ob man weiter Gas von Russland kauft, geht am Thema vollkommen vorbei. Bei einem Mann wie Putin muss man darauf gefasst sein, dass der Worst Case eintritt, er also im unglücklichsten Moment den Gashahn zudreht.

Es gibt zwei Szenarien:

  1. Putin braucht unser Geld nicht. Dann wird er den Gashahn ohnehin abdrehen.
  2. Putin braucht unser Geld. Dann müssen wir a) den Geldzufluss stoppen, denn wir haben durch die Finanzierung des Kriegsapparates ohnehin Ströme von Blut an den Händen und b) laufen wir dennoch Gefahr, dass er den Gashahn zudreht, denn er ist deutlich härter als die Deutschen, nimmt kurzfristigen Schmerz um langfristiger Ziele willen in Kauf.

Beide Szenarien laufen auf dasselbe hinaus: Wir müssen uns jetzt unabhängig machen von russischen Energielieferungen. Der Preis wird hoch sein, keine Frage. Aber das ist nun einmal der Preis der Dummheit. Irgendwann kommt immer der Zahltag.

Ein Verzicht auf russische Energielieferungen reicht aber nicht, dieses hilft weder den Menschen in Mariupol, der Stadt Marias, noch den Menschen, die nun der Entscheidungsschlacht gegenüberstehen. Ohne glaubhafte Abschreckung gibt es keine echte Verhandlungsbasis, mit dem Anzünden von Kerzen und dem „Setzen von Zeichen“ kommt man einem Mann wie Putin nicht bei, er versteht nur die Sprache der Stärke. Dabei helfen die Sanktionen alleine wenig, im Gegenteil können diese sogar kontraproduktiv wirken.

Da die Ukraine militärisch unterlegen ist und niemand ihr zu Hilfe kommt, ist dies eine ungleichgewichtige Situation, so dass Putin die Eskalationshoheit hat und die Verhandlungsbedingungen diktieren kann.

Sollte die Ukraine sich erfolgreicher wehren als erwartet, wäre es für Putin kaum gesichtswahrend möglich, sich aus der Ukraine zurückzuziehen und zuzugeben, dass David den Goliath geschlagen hat. In dem derzeitigen Setting ist nur eine Eskalation denkbar, in der Putin versucht, die Ukraine – mit welchen Mitteln auch immer – niederzuringen.

Der Wirtschaftswissenschaftler und Spieltheoretiker Prof. Christian Rieck hat dargestellt, dass und warum für Putin ein Krieg gegen die Ukraine eine rationale Entscheidung war. Er musste aufgrund der deutlichen Unterlegenheit davon ausgehen, dass die Ukraine sich ergeben wird, voraussichtlich sogar schnell.

Putins Überlegung wird gewesen sein: Die Ukraine hat keine Siegeschance, daher wird sie, um den Verlust von Menschenleben und die Verwüstung ganzer Regionen zu verhindern, sehr schnell kapitulieren. Der Westen hatte signalisiert, nicht militärisch eingreifen zu wollen. Lediglich Sanktionen waren angedroht, d. h. die Ukraine hatte für ihn einen Preis. Den war er bereit, zu zahlen.

Aufgrund der bisher durchaus erfolgreichen Verteidigung der Ukraine und der verschärften Sanktionen wird der Preis immer höher. Die Erhöhung des Drucks durch verstärkte Sanktionen kann aber das Ziel, nämlich einen gesichtswahrenden Rückzug, nicht bewirken, eher das Gegenteil. Sanktionen haben eine Grenze, irgendwann ist eine Verschärfung nicht mehr möglich. Damit hat der Preis für das erbeutete Land eine Obergrenze. Ist der Preis hoch, so muss der Gewinn umso größer sein, um überhaupt ein Break-even-Point zu erreichen, geschweige denn einen Gewinn zu erzielen.

Sanktionen beenden also das Morden nicht, sondern könnten es entgegen dem angestrebten Ziel noch ausweiten.

Das einzige, was hilft

Das Einzige, was den Völkermord beenden kann, ist das Eingreifen des Westens, entweder durch die NATO oder die Garantiestaaten, welche die Sicherheit der Ukraine im Budapester Memorandum garantiert haben (USA, Großbritannien und Frankreich – eigentlich auch China).

Treffend dürfte die Einschätzung des dänischen Journalisten Jens Hovsgaard sein, der die Verquickungen der deutschen Politik mit Putin um Nord Stream 2 untersuchte:

Es kann doch nicht um Frieden um des Frieden willens gehen. Die Ukraine ist ein souveräner Staat. Sie muss in den Grenzen vor 2014 wiederhergestellt werden. Ich habe aber das Gefühl, dass die deutsche Bundesregierung schon auf die Nachkriegsverhandlungen schaut und auf irgendeinen Kompromiss mit Putin, bei dem dieser noch größere Teile der Ukraine bekommt. Aus meiner Erfahrung würde ich sagen: Am Tag nach einer solchen Einigung, bei der Putin einen Teil seiner verbrecherischen Forderungen erfüllt bekommt, sind die Business-Hotels in Moskau wieder voll gebucht.

Welche Alternativen besitzt die Ukraine eigentlich? Mit dem 24. Februar 2022 verlor Helmut Schmidts Satz „Besser 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen“ vorläufig sein Primat. Die Ukraine kämpft um ihr Überleben als Nation und als Staat. Der Aggressor muss aus dem Land geworfen werden.

Russland überfiel mit einer seit dem Bosnien-/Balkankrieg in den 90ern in Europa beispiellosen Brutalität sein Nachbarland. Inzwischen weiß die Welt, Putin führt in der Ukraine einen Krieg, der Hitlers Krieg im Osten in unendlich vielen Details furchtbar ähnelt. Selbst Säuberungs- und Erziehungslager sind geplant, vielleicht sogar schon in Betrieb. Inzwischen werden zehntausende Ukrainer vermisst, die offensichtlich nach Russland entführt wurden. Was Russland abstreitet und gleichzeitig mittels „RIA Novosti“ verkündet.

Die russischen Verbrechen sind in der Dimension unvorstellbar und erinnern an „Katyn“ und die stalinschen Säuberungen und Massenmorde. War die Sowjetunion seit dem 22. Juni 1941 Opfer eines Vernichtungskrieges, bis zu diesem Tag wütete sie wie Deutschland in Polen und im Baltikum, so drehte Putin 2022 das Blatt und macht es ebenso wie vor über 80 Jahren NS-Deutschland. Und das alles unter der Parole „Entnazifizierung der Ukraine“. Wäre es nicht so grausam, der Satz wäre ein Knüller in Kabarettprogammen. Da will einer auf NS-Art einen Staat disziplinieren, an dessen Spitze ein Nachkomme im Holocaust ermordeter ukrainischer Juden steht? Abscheulicher hätte das Stalin auch nicht postulieren können.

Um im Bild zu bleiben, einige Zeitgenossen in warmen geschützten Stuben empfehlen der Ukraine die Kapitulation, „Friedensgespräche“ zum jetzigen Zeitpunkt sind nichts anderes. Weitere Opfer sollen verhindert werden, so das wohlfeile Geplapper.

Gesetzt den Fall, die Ukraine würde das tun, was würde geschehen? Die russische Besatzung würde zementiert und Russland könnte ungehindert sein Säuberungs- und Vernichtungsprogramm durchziehen. Es wäre Elend und Todesurteil für Millionen Ukrainer.

Für die Wohlfeilen wäre das nicht problematisch, allgemeines Bedauern und Übergang zur Tagesordnung sind eingeübte Rituale. Was in der NATO-Doppelbeschluss-Diskussion „Lieber rot als tot!“ bedeutete, hieße heute „Lieber brutal besetzte Ukraine als Störung unserer Ruhe!“.

So zynisch es klingen mag, die ukrainische Bevölkerung hat nur die Wahl zwischen dem Kampf um die Freiheit oder dem Vegetieren unter grausamer russischer Besatzung. Viele Ukrainer sagen sich, im letzteren wäre sofortiger Selbstmord auch eine Lösung.

Unabhängig von dem, was die Nicht-Ukrainer der Welt an guten oder weniger guten Ratschlägen parat haben, es sind die Ukrainer, die das Recht der Entscheidung haben, wie sie leben oder nicht leben möchten. Es waren nicht die Ukrainer, die in ihr Nachbarland einfielen. Russland kam als Mordmaschine über seinen Nachbarn.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Annette Heinisch. Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.

Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de.

Bild: Drop of Light/Shutterstok
Text: Gast

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