Ein Gastbeitrag von Sönke Paulsen
Eigentlich wusste man nicht, ob man lachen oder weinen sollte, als die Kanzlerin mit großem medialen Getöse eine Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes ankündigte, das im Kern bundesweite nächtliche Ausgangssperren bei einer Inzidenz von über 100 vorsieht. Die Maßnahme wurde gerade in einem Artikel des Tagesspiegels ausführlich erklärt und die Erläuterung ging auch nicht darüber hinweg, dass es sich angesichts der schwachen Wirksamkeit solcher Ausgangssperren wohl eher um eine Drohgebärde gegenüber der Bevölkerung und ihren Ministerpräsidenten handeln solle, als Warnung, den Infektionsschutz besser einzuhalten.
Eine Drohgebärde der Kanzlerin also, eine Machtdemonstration ist es allemal. Denn damit werden die Länder automatisch in den Berliner Gleichschritt gezwungen. Die Medien kommentieren das insgesamt eher süffisant und überhaupt nicht beunruhigt. Unser Föderalismus, so kann man es jetzt, während der Krise, überall lesen, ist ja ohnehin nur ein Störfaktor in der Pandemie, die eigentlich eine harte Hand erfordere.
Die Leitmedien überholen sich derzeit gegenseitig darin, den Zentralismus zu preisen. Dabei wird alles, was schlecht sein soll, der Peripherie, also den Ländern, zugeschoben und das Gute nach Berlin verlegt, wo eine Kanzlerin sitzt, die ja wegen unseres unzulänglichen Systems leider nicht zum Zuge komme.
So hören sich, genau genommen, Medien an, die einen neuen Führer herbeischreiben möchten.
Der steht auch schon in den Startlöchern und heißt Markus Söder. Sogar der Spiegel verfasst bewundernde Artikel über den offensichtlichen Narzissten, der mit „rechten Methoden“ eine „grüne Revolution“ anstrebe.
Nüchtern betrachtet kommt Söder vielen Menschen in diesem Land vor wie ein deutscher Donald Trump, der einen Karton mit Kreide gefressen hat. Denn er redet nicht so, wie er denkt, wie man ihn kennt und wie er aussieht. Söder will nämlich Kanzler werden und schart gerade die Merkel-Union hinter sich. Profiliert hat er sich in der Pandemie vor allem mit dem Ruf nach Verschärfungen, Bevormundung der Bürger und drastischen Strafen. Wie ein charismatischer, autoritärer Führer sich eben profiliert.
Angeblich wollen ihn 57 Prozent der Deutschen zum Kanzler haben, was dem Ruf nach einem „starken Mann“ entsprechen würde, der in einer Krisensituation ja bekanntlich lauter wird und nicht leiser. So kann man nur mit oder für Söder hoffen, dass ihm das chinesische Virus noch eine Weile beisteht.
Die Demokratie, die zumindest die Westdeutschen nach 1945 von den West-Alliierten verordnet bekamen, scheint inzwischen nicht viel mehr als eine lästige „Streit-un-kultur“ zu sein, der sich viele gern entledigen würden. So wirkt das im Augenblick, auch bei den Medien, die sich eher politisch links verorten (Der Spiegel verortet sich doch links, oder?).
Was die Bürger wirklich denken, ob sie tatsächlich bereit sind, weiterhin ihre Freiheit widerstandslos wegzugeben, ob sie also auf eine autoritäre Staatslinie eingeschwenkt sind, weiß man nicht genau.
Es wirkt ein bisschen so, als hätten die Chinesen nicht nur ihr Virus um die Welt geschickt, sondern auch ihre Staatsform, was explizit nicht in den Medien problematisiert wird. Ganz im Gegenteil! Der chinesische Weg in der Pandemie wird bei uns vielerorts sogar gepriesen, obwohl er eine brutale Diktatur geradezu voraussetzt.
Der chinesische Präsident, Xi Jinping, der Konzentrationslager in seinem Land für Uiguren und Mongolen unterhält und ein Schreckenssystem in Tibet aufbauen ließ, um die Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen, sagte sinngemäß als Reaktion auf westliche Menschenrechtsvorwürfe:
Die wichtigsten Menschenrechte seien Wohlstand und Sicherheit. Von Freiheit wollte er nichts wissen.
So ähnlich kommt es einem derzeit in Deutschland und den westlichen Ländern Europas vor. Die europäischen Leitmedien transportieren jedenfalls, genau wie die Regierungspolitiker, nur diese beiden Rechte an die Öffentlichkeit. Wohlstand und Sicherheit, während Freiheit bei uns inzwischen wie ein lästiges Schmuddelkind behandelt wird, das eigentlich nichts zu sagen hat. Es soll doch bitte weiter im Sandkasten spielen, zusammen mit dem anderen ungeliebten Kind, dem Föderalismus.
Sind wir also schon reif für die Diktatur?
Es hat ganz den Anschein.
Wenn Politiker verschiedener Couleur das staatliche Eindringen in die privaten Wohnungen zur Kontrolle der Pandemie-Verordnungen fordern oder androhen, was derzeit ständig passiert, ist das ein Angriff auf unser Grundgesetz. Das ist die Methode der chinesischen Diktatur in der Pandemie, der wir uns ganz real annähern.
Der Rechtsstaat wird nicht mehr respektiert
Noch haben wir einen Rechtsstaat! In letzter Zeit wurden viele repressive Verordnungen zur Pandemiebekämpfung gerichtlich gekippt. Häufigste Begründung der Gerichte war wohl mit Abstand die fehlende Verhältnismäßigkeit. Regierungspolitiker auf Landes- und Bundesebene kommentieren solche Urteile entweder gar nicht oder so, als handele es sich lediglich um kleinere Formfehler, die zur Verfassungswidrigkeit der Verordnungen geführt hätten.
Die fehlende Verhältnismäßigkeit verweist aber auf den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit. Überschießende Repressionen sollen damit ja gerade verhindert werden. Die Gerichtsurteile sind somit Hinweise auf eine ganz grundsätzliche Missachtung des Grundgesetzes durch die Politik. Man könnte auch von einer Verachtung unserer Verfassung sprechen.
So oft und hartnäckig wie unsere Regierungen (Bund und Länder) in diesem abgelaufenen Jahr gegen fundamentale Verfassungsgrundsätze verstoßen haben und von den Gerichten abgemahnt wurden, müssten Merkel, Söder und ihre Kollegen eigentlich mit dauerroten Gesichtern herumlaufen. Vor Scham natürlich, für ihre verfassungswidrige Politik.
Tun sie aber nicht, sondern stellen ihre versuchte Beugung der rechtsstaatlichen Grundsätze als handwerkliche Fehler ihrer Ministerialbeamten dar. Die Medien schlucken das fast schon begeistert. Endlich werden unsere Verfassung und unser Rechtsstaat mal so richtig attackiert!
Es hat den Anschein, dass das Grundgesetz, welches unsere Rechte und die freiheitlich demokratische Grundordnung garantiert, nicht mehr respektiert wird und zwar bis hinauf ins Kanzleramt.
Woran liegt das? Ein Kulturverlust?
Orientierung aufs Machbare und auf die Macht
Tatsächlich gibt es eine intellektuelle Vorwegnahme dieser politischen und gesellschaftlichen Abwendung von kulturellen und rechtlichen Prinzipien in einer Demokratie. Die kommt, ganz zum Unglück der „Lifestyle Linken“, wie Sarah Wagenknecht unser linkes Bürgertum klassifiziert, nicht aus der rechten Ecke, sondern von der renommierten, neomarxistischen „Frankfurter Schule“. Adorno, Horkheimer, Marcuse, Habermas. Autoren, von denen viele Linke bestenfalls den Buchrücken gesehen haben.
Marcuse hat den Begriff der „repressiven Entsublimierung“ geprägt, der in seiner Schrift „Der eindimensionale Mensch“ vor allem eines meint: den Kulturverlust durch die Dominanz technischer Rationalität und das ständige Schauen nach dem Machbaren.
Das Machbarkeitsprinzip, das uns unsere Politik derzeit demonstriert, soll Handlungsfähigkeit und Macht über die Verhältnisse signalisieren und achtet nicht darauf, welche Grundwerte dabei zu respektieren sind. Das ist der Kulturverlust unserer Politik, den wir nicht erst seit der Pandemie erleben.
Genau dieses Phänomen bedingt auch den Verlust bestimmter Ideale, vor allem politischer Ideale, die mit der Aufklärung in engem Zusammenhang stehen.
Unsere Verfassung gründet aber auf Idealen und wer die Verfassung rein technisch auslegt, teilt diese Ideale nicht.
Damit ist explizit auch unsere Bundeskanzlerin und ihre linksgewendete Partei gemeint. Damit ist aber auch ein großer Teil der Grünen und des linken Bürgertums gemeint, die, vom Wohlstand bis zur grünen Transformation der Welt, alle möglichen Ideale verfolgen, aber nicht die der Aufklärung, in der es um die Entwicklung freier, mündiger Staatsbürger geht.
Dafür werden scheinbar existentielle, globale Krisen wie der Klimawandel beschworen, deren Abwendung jedes Mittel heiligt, auch die zunehmende Einschränkung von Demokratie und Freiheit, die Errungenschaften der Aufklärung. An diesem Punkt stehen wir!
China kann nie ein Vorbild für uns sein
China hat das Zeitalter der Aufklärung nie erlebt. Dafür hatte das Land eine Kulturrevolution, die das Gegenteil von Aufklärung bedeutete und kulturelle Traditionen nachhaltig zerstört hat. Es verwundert somit nicht, dass die KP Chinas individuellen Rechten und der politischen Mündigkeit der Bürger keinerlei Wert beimisst. Das wird auch in Zukunft nicht zu erwarten sein. China wird eine menschenverachtende Diktatur bleiben.
Die Art und Intensität, mit der wir in Europa und gerade auch in Deutschland chinesische Methoden und Denkweisen in der Pandemiebekämpfung übernommen haben, wirkt dagegen so, als hätten wir in Europa nie eine Aufklärung gehabt. Sie ist nur durch einen Verlust der politischen Kultur und ihrer Ideale zu erklären und muss mit dem hässlichen Wort einer „kulturellen Degeneration“ charakterisiert werden. Sie wird uns genau dorthin führen, wo China jetzt ist. In einen totalitären Kapitalismus, dessen Verwertungslogik die menschlichen Grundrechte hinwegfegt.
China hat einen starken Kapitalismus mit totalitären Merkmalen entwickelt, der gerade von unseren Wirtschaftsunternehmen bewundernd verinnerlicht wird. Im gleichen Atemzug wird die chinesische Pandemiebekämpfung gelobt und kopiert. Soll uns nun das chinesische Gesellschaftsmodell verkauft werden?
Es ist zu hoffen, dass wir Europäer, und ganz besonders wir Deutschen, uns dagegen zur Wehr setzen.
Aber sicher ist das nicht.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“.
Hier finden Sie das erste Kapitel seiner Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.
Bild: Asada Nami/Shutterstock
Text: Gast
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