Von Kai Rebmann
Die Zeiten haben sich geändert. Noch vor zwei Jahren passte im Hinblick auf die Corona-Politik kein Blatt Papier zwischen die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und China. Pekings Weg mit strengen Lockdowns, Massentests und Maskentragen wurde von der WHO weltweit propagiert und in beängstigender Geschwindigkeit von einem Land nach dem anderen übernommen. Selbst die Tatsache, dass China in den ersten Tagen und Wochen nach dem Ausbruch in Wuhan nachweislich versucht hat, die Ereignisse zu vertuschen, rief in Genf (Schweiz) allenfalls ein Achselzucken hervor. Der umtriebige WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus ließ kaum eine Gelegenheit aus, um Xi Jinping und die Kommunistische Partei Chinas (KP) für deren konsequentes Handeln zu loben, mit dem noch Schlimmeres verhindert worden sei.
Die WHO hat ihren Kuschelkurs mit Peking zwar schon seit längerer Zeit aufgegeben, doch nun scheint sich der Wind endgültig gedreht zu haben. Am Dienstag kritisierte Tedros Chinas Null-Covid-Politik mit seltener Klarheit. Der WHO-Chef sagte in die Kameras: „Wir glauben nicht, dass (diese Strategie) nachhaltig ist, wenn man sieht, wie das Virus sich verhält und man bedenkt, was wir für die Zukunft erwarten können. Wir haben über dieses Thema mit chinesischen Experten gesprochen und darauf hingewiesen, dass dieser Ansatz nicht nachhaltig sein kann. Ich denke, eine Kursänderung wäre sehr wichtig.“ Tedros wies darauf hin, dass man inzwischen mehr über das Virus wisse und es bessere Instrumente für seine Bekämpfung gebe. Dr. Mike Ryan, Krisenmanager bei der WHO, bestätigte diese Einschätzung: „Wir als WHO haben immer gesagt, dass wir die Maßnahmen gegen die Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Wirtschaft abwägen müssen, auch wenn diese Abwägung nicht immer einfach ist.“
Ryan bezog sich damit vor allem auf die immer dramatischeren Folgen der strikten Lockdowns, die nicht nur verheerende Auswirkungen auf Chinas Wirtschaft haben. Die Bewohner ganzer Dörfer und Städte dürfen seit Wochen ihre Wohnungen nicht verlassen und werden teilweise regelrecht zu Hause eingesperrt. In vielen Regionen des Landes wird die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten immer knapper. Zuletzt waren in den Nachrichten verstörende Bilder zu sehen, wie Kinder von ihren Eltern getrennt und in Quarantänelager gesteckt wurden. Ein Großteil der im Zusammenhang mit Corona überall auf der Welt verhängten Maßnahmen, insbesondere strenge Lockdowns und Quarantänen, sind eine chinesische Errungenschaft, die im Frühjahr 2020 durch das Zusammenwirken von WHO und Peking rund um den Globus salonfähig geworden sind.
Chinas Internet-Polizei zensiert die WHO-Pressekonferenz
Die Menschen in China haben von der Kritik aus dem WHO-Hauptquartier jedoch nur etwas mitbekommen, wenn sie die Pressekonferenz mehr oder weniger in Echtzeit verfolgt haben. In den ersten Stunden nach der Veröffentlichung des Videos ging es in diversen Messengerdiensten wie etwa Wechat zwar viral, war danach aber nicht mehr abrufbar. Pekings Internet-Polizei hat das Video mit den Äußerungen von Tedros ebenso gelöscht wie eine kurz darauf in diesem Zusammenhang verbreitete Pressemitteilung. Als Begründung führte die Zensurbehörde der KP „Verstöße gegen relevante Gesetze“ an.
Es war nicht das erste Mal, dass Stellungnahmen der WHO zu Pekings Corona-Politik dem Rotstift zum Opfer gefallen sind. Bereits vor einigen Monaten zog Tedros die These von einem Laborunfall zumindest in Erwägung und forderte von der KP, entsprechende Untersuchungen anzustellen. Nach wie vor verfügbar sind dagegen Videos und Stellungnahmen der WHO, die aus dem Frühjahr 2020 stammen und in denen ein Laborunfall seitens der Weltgesundheitsorganisation noch kategorisch ausgeschlossen worden war.
Peking veröffentlicht zweifelhafte Studie, Epidemiologe warnt vor Teufelskreis
Praktisch zeitgleich mit dem Video der WHO-Pressekonferenz wurde in China eine Studie veröffentlicht, die den vermeintlichen Erfolg und die Alternativlosigkeit von Pekings Null-Covid-Politik belegen soll. Die Studie wurde von chinesischen Wissenschaftlern erstellt, nach deren Schätzungen eine sofortige Beendigung der bisher gefahrenen Strategie eine Welle mit bis zu 1,55 Millionen Toten auslösen könnte. Darüber hinaus sei innerhalb eines halben Jahres mit rund 112 Millionen symptomatischen Erkrankungen zu rechnen, woran auch eine Impfquote von 91 Prozent bzw. eine Booster-Quote von 53 Prozent nichts ändern könne. Der Bedarf an Impfstoff wäre der Studie zufolge um das mehr als 15-fache höher als die vorhandenen Kapazitäten. Zumindest für dieses Problem gäbe es eine Lösung. Wie treue Leser von „reitschuster.de“ wissen, hortet Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mehr als genug Impfstoff.
Auch wenn die Studie bereits im Fachmagazin Nature Medicine erschienen ist, bleiben einige Zweifel an den grundlegenden Aussagen. Sowohl die ausschließliche Beteiligung chinesischer Wissenschaftler als auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung am selben Tag wie die WHO-Pressekonferenz geben Anlass zu einer gewissen Skepsis. Andererseits lassen die Äußerungen des Epidemiologen Timo Ulrichs von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin, die Ergebnisse der chinesischen Studie in einem etwas plausibleren Licht erscheinen, zumindest was die reinen Zahlen oder die Grundannahme der absoluten Notwendigkeit betrifft. Von einem Erfolg kann aber, anders als von der KP propagiert, natürlich trotzdem keine Rede sein. Vielmehr hätte sich China mit seiner Null-Covid-Politik zum Gefangenen in einem Teufelskreis gemacht, aus dem es so gut wie kein Entrinnen mehr gibt. Die SZ zitiert den Experten für Globale Gesundheit wie folgt: „Fehlender Impfschutz und Abwesenheit des Virus lassen die chinesische Bevölkerung ähnlich dastehen wie die gesamte Weltbevölkerung zu Beginn der Pandemie.“ Mit dem „fehlenden Impfstoff“ bezieht sich Ulrichs offenbar auf die chinesischen Tot-Impfstoffe Sinovac und Sinopharm, die in Europa jedoch nicht (not)zugelassen sind.
Es erinnert an Realsatire, wie die Tagesschau diese Nichtzulassung in einem Bericht vom 13. Januar 2022 begründet hat: „Internationale Studien verweisen seit Langem darauf, dass die chinesischen Impfstoffe weniger gut vor Ansteckung schützen als mRNA oder Vektor-Impfstoffe – wie beispielsweise die von BioNTech/Pfizer oder AstraZeneca. Und bei der Omikron-Variante nimmt der Schutz vor einer Ansteckung noch weiter ab, so jüngst eine Studie der Universität Hongkong (HKU). Dennoch, die chinesischen Impfstoffe schützten vor schweren Verläufen und davor, dass man im Krankenhaus landet. Das zeigten Studien, so Abdi Mahamud von der Weltgesundheitsorganisation. Die WHO gehe davon aus, dass dies auch bei der Omikron-Variante der Fall sei.“ Sie fragen sich jetzt, wo der Unterschied zwischen Biontech und AstraZeneca einerseits und Sinovac und Sinopharm andererseits liegt? Da sind Sie wohl nicht alleine.
Timo Ulrichs sieht in der „Abwesenheit des Virus“, also der Tatsache, dass die chinesische Bevölkerung aufgrund des strikten Lockdowns nie wirklich in Kontakt mit der Omikron-Variante gekommen ist, das größte Problem für die weitere Entwicklung in China. „Die Null-Covid-Strategie lässt sich angesichts der sehr hohen Infektiosität der Omikron-Variante nur noch mit immer strikteren Maßnahmen aufrechterhalten“, beschreibt der Epidemiologe das, was die KP ihren Untertanen und der Welt als Erfolg zu verkaufen versucht.
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
Bild: ShutterstockText: kr
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