Irreführung in deutschen Medien beim Thema Russland Journalistisches Verwirrspiel – Absicht oder Unfähigkeit?

Geht es Ihnen auch so wie mir, dass Sie manchmal den Eindruck haben, dass sich unsere Medien selbst widersprechen? Dass eine Art kognitive Dissonanz vorhanden ist? Ich denke mir ja manchmal – wahrscheinlich bildest Du Dir das nur ein. Aber – mitnichten. Die Zeitung „Welt“ aus dem Hause Springer – in Sachen Corona eines der wenigen Blätter, das auch kritische Berichterstattung zulässt und dafür Dank und Respekt verdient – hat mich nun beim Thema „Russland“ zutiefst verwirrt. Zuerst glaubte ich an ein unglaubliches Beispiel für  kognitive Dissonanz. Das bewahrheitete sich nach Prüfung zwar nicht. Aber was herauskam, ist immer noch ein Exempel für Irreführung der Leser und – zumindest – schlechten Journalismus. Der hier von der dpa stammt, der Presseagentur, die ein Leitmedium ist, und deren Text die „Welt“ offenbar einfach übernommen hat. Wie andere Medien auch.

„Erstmals seit 1991 ist die deutsche Handelsbilanz ins Minus gerutscht, denn mit China und Russland brechen gerade zwei wichtige Export-Partner weg“, schrieb die „Welt“ gestern in einem Artikel hinter einer Zahlschranke. Wer im Besitz eines Abos ist wie ich, liest dann weiter unten im Text, „dass das Russland-Geschäft als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine eingebrochen ist“. Und: „Das stärkste Defizit verzeichnete Deutschland mit China mit acht Milliarden Euro. Danach folgt das Defizit mit Russland, das trotz des Krieges Deutschlands wichtigster Energielieferant ist, während sich die Ausfuhren halbierten.“

Ich neige zwar zu Vergesslichkeit, aber manche Dinge merke ich mir ganz genau. Und so war im Gedächtnis hängen geblieben, dass ich am gleichen Tag, also gestern, in der gleichen „Welt“, im gleichen Ressort, eine Nachricht gelesen hatte, die haargenau das Gegenteil besagt: „Deutsche Exporte nach Russland steigen im Vormonatsvergleich um fast 30 Prozent“. Ich habe mir das so gut eingeprägt, weil ich mich sehr wunderte: Wie kann trotz angeblich so harter Sanktionen und Handelsbeschränkungen der Export nach Russland steigen?

Auflösung im Kleingedruckten

Ich versuchte, die Kollegen geistig in Schutz zu nehmen. Vielleicht, so sagte ich mir, bezieht sich der eine Artikel auf den Vergleich zum Vorjahr, der andere auf den zum Vormonat, vielleicht ist es nur ein relativer Anstieg im Export nach Russland gegenüber einem Einbruch in den Vormonaten. Vielleicht löst sich im „Kleingedruckten“ alles auf?

Zunächst schien sich diese Hoffnung zu zerschlagen. Ich las im Text: „Innerhalb eines Jahres stiegen die Ausfuhren ‘Made in Germany‘ im Mai insgesamt kräftig um 11,7 Prozent auf 125,8 Milliarden Euro.“ Erst das Weiterlesen zeigte, dass mein Verdacht zutraf: „Die Einfuhren legten um 27,8 Prozent auf 126,7 Milliarden Euro zu. Die Exporte nach Russland brachen im Vorjahresvergleich um 54,6 Prozent ein.“

Hier wurden also einfach sprachlich ungeschickt zuerst die Gesamtzahlen aufgeführt – obwohl es davor um Russland ging und man deshalb den Eindruck bekommen konnte, es handele sich um Russland-Zahlen.

Insgesamt ist der dpa-Artikel eine Irreführung der Leser. Denn die Überschrift erweckt genau den gegenteiligen Eindruck der Realität – die man nur im Kleingedruckten findet und nur als sehr aufmerksamer Beobachter. Ein großer Teil der Leser liest aber nur noch die Überschriften und den Vorspann. Bei denen bleibt genau das Gegenteil von dem hängen, was Sache ist. Absicht oder Unfähigkeit? Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, warum dem Wirtschaftsressort der „Welt“ die Problematik nicht aufgefallen ist – wie mir, der nicht für die „Welt“ arbeitet. Der Deutschlandfunk macht es zumindest etwas besser als „Welt“ und dpa. Die Überschrift dort: „Exporte aus Deutschland nach Russland wieder deutlich gestiegen“. Journalistisch richtig sauber wäre gewesen: „Nach massivem Einbruch – Export nach Russland zieht wieder an“.

Noch mehr Widersprüche

Ebenso spannend – in demselben dpa-Artikel bei der „Welt“ steht: „Deutschlands Exporteure haben im Mai deutlich bessere Geschäfte gemacht als ein Jahr zuvor.“ Am gleichen Tag veröffentlichte die Welt einen Artikel mit der Überschrift: „Historischer Einbruch der Exporte – Deutschlands Abstieg ist offiziell“.

Auch hier erweckt die dpa damit genau den gegenteiligen Eindruck wie die „Welt“. Und deren Redakteure merken nicht, dass sie das an einem Tag im gleichen Blatt haben.

Journalismus zum Abschalten.

PS: Spannend auch, dass die Importe – nicht zu verwechseln mit den Exporten, um die es oben ging – aus Russland trotz der Sanktionen ein 10-Jahres-Hoch erreichten, wie der Leiter des „Welt“-Wirtschaftsressorts Olaf Gersemann auf Twitter vermeldete:

 

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!


Bild: Shutterstock
Text: br

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