Von Alexander Wallasch
Der Bundestag beschloss am vergangenen Freitag eine Impfpflicht für Pflege- und medizinische Berufe. Dieses erste größere Vorhaben der neuen Ampelkoalition soll ab Frühjahr 2022 gelten. Karl Lauterbach (SPD) erklärte im Bundestag als neuer Bundesgesundheitsminister, dass er es für inakzeptabel halte, dass Ungeimpfte in Pflegeeinrichtungen arbeiten würden. Das sei jetzt abzustellen.
Der Minister machte sich hierfür sogar Merkels Mantra „Wir schaffen das“ zu eigen. Wir schaffen das, meinte Lauterbach, Ungeimpfte entweder zu impfen oder eben auf die Straße zu schicken. Dort übrigens, wo ihnen mutmaßlich sowieso bald der allgemeine Impfzwang droht.
Der Applaus im Parlament war Lauterbach sicher. Aber er bekommt in den letzten Tagen vermehrt Gegenwind von immer mehr Fachleuten, die in Pflegeberufen tätig sind und die den Sinn und Zweck einer Impfpflicht für die Bewältigung der Pandemie ernsthaft bezweifeln.
Der Protest einer aufgebrachten Krankenhaus-Mitarbeiterin aus München sorgte für bundesweite Aufmerksamkeit. Mittlerweile hat sie obendrein eine eigene Bewegung gegründet, die es sich auf die Fahnen geschrieben hat, für die Arbeit der Krankenhaus-Mitarbeiter und Pflegeberufe zu sensibilisieren. Und in der Politik hat sich beispielsweise Sahra Wagenknecht (Die Linke) mit den Beschäftigten solidarisiert.
Das Protestpotenzial steigt dort, wo der Druck ankommt
Immer neue Videos tauchen auf. Für größere Aufmerksamkeit sorgte jetzt ein Video, veröffentlicht auf der Webseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das laut Bildunterschrift von der Nachrichtenagentur Reuters stammt.
Im Video äußert sich ein Mediziner zur Impfpflicht für Pflegekräfte unter dem Titel: „Berliner Arzt befürchtet Abwanderung“. Eine Abwanderung von Pflegekräften wäre tatsächlich fatal, denn längst schon soll eine sechsstellige Zahl von ausgebildeten Fachkräften nicht mehr im Beruf arbeiten, weil die Bedingungen so schlecht geworden sind.
Ein Mangelzustand, der zweifellos im Zentrum der Überlastung der Krankenhäuser während der Pandemie steht. Im Vergleich zum Vorjahr sind 2021 aber tausende Intensivplätze auch aus Mangel an Mitarbeitern abgebaut worden.
Professor Harald Matthes aus Berlin ist ärztlicher Leiter des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe. Und er hat die Nase gestrichen voll, soviel darf man vorab zusammenfassen.
Matthes berichtet:
Über fünf, sechs Tage kommt es weiter zu Virusausscheidungen, sodass eben nach wie vor auch bei Geimpften getestet werden muss. Das heißt, wir werden auch durch eine Impfpflicht nicht von den Testen befreit sein. Sodass aus meiner Sicht es sehr, sehr schade ist, dass hier doch ein Druck auf die Pflegenden ausgeübt wird, dass sie sich impfen. Das hat auch bei uns Diskussionen ausgelöst, dass auch hier entsprechend über Abwanderung aus dem Beruf nachgedacht wird.
Der O-Ton des Videos fasst das gerade Gesagte so zusammen:
Pflegende, die den Beruf aufgeben und ihre Stellen verlassen, das ist das letzte, was Krankenhäuser und Kliniken während der Pandemie gebrauchen können. Doch der Stein sei auf Stationen bundesweit schon längst ins Rollen geraten.
Aber nur bezogen auf die aktuelle Pandemie-Situation? Vom Pflegenotstand war nämlich schon viel früher die Rede. Um nur ein Beispiel zu nennen: Schon Mitte 2018, also lange vor der Pandemie, startete die Merkel-Regierung eine Initiative, um dem Pflegenotstand etwas entgegenzuhalten.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte damals versprochen, mehr Menschen dazu zu bringen, diesen verantwortungsvollen Beruf zu ergreifen:
Wir wollen Pflegekräfte ermuntern, in den Job zurückzukehren oder wieder Vollzeit darin zu arbeiten. Täglich leisten die Pflegekräfte in unserem Land Großartiges für unsere Gesellschaft. Dafür verdienen sie mehr Wertschätzung im Beruf, gute Arbeitsbedingungen und eine gerechte Bezahlung.
Arbeit am Limit und darüber hinaus
Passiert ist indes nichts. Jedenfalls nichts, dass mit Erfolg gekrönt wäre. Aber auch dieses fundamentale Versagen bleib folgenlos für die Regierung. Im Gegenteil: Das Vorhaben einer Impfpflicht für diese Berufe wurde von der alten umstandslos an die neue Regierung delegiert und ins Aufgabenheft geschrieben und ist jetzt bereits für März 2022 beschlossene Sache.
Professor Harald Matthes, Krankenhausleiter Havelhöhe, erzählt, wie beim ihm in der Klinik der Ist-Zustand aussieht:
Wir haben einen großen Verlust an Intensivpflegenden, die nach den eineinhalb Jahren ausgelaugt sind, die frustriert sind, die entsprechend den Beruf an den Nagel gehängt haben. Und das ist eine Katastrophe. Auch die Anreize oder die Wertschätzung, die der Pflege vielleicht noch in der ersten Phase der Pandemie entgegengekommen ist, die ist nicht mehr vorhanden. Und daher fühlen sich die Pflegenden nicht adäquat gesehen und entsprechend sind sie auch frustriert. Das heißt, wir haben zur Zeit zehntausend Intensivbetten weniger, die wir betreiben können und sind daher schon bei den jetzigen Zahlen noch unter denen der dritten Welle – sind wir schon bei den Limitationen.
Es gäbe, so der Professor, bereits Kapazitätsengpässe samt Verlegungen in verschiedene Bundesländer. Und gegenüber den Dokufilmern der Agentur Reuters ergänzt er:
Wir haben in der letzten Woche die Situation gehabt, dass wir zwei Patienten nicht mehr aufnehmen konnten, die von den peripheren Stationen hätten auf die Intensivstationen kommen müssen, da mussten wir auf eine andere Intensivstation verlegen, ansonsten haben wir eher noch von anderen Intensivstationen Patienten übernommen, sind aber auch an unserem Limit.
Auf dem Höhepunkt der dritten Welle lagen weniger Menschen auf den Intensivstationen und es gab noch keine Impfungen, aber tausende Intensivbetten mehr. Die Schuldzuweisung des polit-medialen Komplexes an die Ungeimpften wiegt in diesem Kontext noch einmal schwerer. Hier wird eine bestimmte Gruppe für ein Versagen des Staates in Haftung genommen. Die Menschen werden sogar gegeneinander aufgehetzt. Der neue Gesundheitsminister suggeriert sogar, die Toten würden auf das Konto der Ungeimpften gehen – nein, er suggeriert es nicht, er beschuldigt die Ungeimpften ganz direkt.
In Österreich musste sich zuletzt eine ÖVP-Abgeordnete entschuldigen, weil sie im Zusammenhang mit ungeimpften Pflegekräften gar von „Todesengeln“ sprach.
Man kann nicht einfach alle impfen
Interessant in den Zusammenhang ist eine ZDF-Meldung von Ende Dezember 2020. Damals nämlich berichtete das öffentlich-rechtliche Fernsehen noch sorgenvoll: „Patientenschützer warnen vor überhasteten Corona-Impfungen in Pflegeheimen. Es drohten Konflikte mit bestehender Medikation und medizinischer Vorgeschichte der Bewohner.“ „Man kann nicht einfach in ein Pflegeheim gehen und dort alle Bewohnerinnen und Bewohner impfen“, zitierte das ZDF die Vorsitzende der Stiftung Patientenschutz.
Von dieser Sorge ist nichts geblieben, man hat es einfach gemacht, es wurde massenhaft geimpft. Und damit hat man die Frage im Raum zu einem großen Elefanten mutieren lassen, warum eigentlich immer mehr geimpfte Alte auf den Intensivstationen landen.
Die Pflegekräfte dieser alten Menschen sollen ab März einer Impfpflicht nachkommen. Möglicherweise haben wir im März aber schon längst eine allgemeine Impfpflicht. So erscheint auch diese Vorankündigung wie eine Erziehungsmaßnahme samt Drohkulisse. So, als wolle der Staat gezielt Druck ausüben, um möglichst viele besonders Ängstliche und Unentschlossene zu erreichen.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August 2021 ist Alexander Wallasch im „Team Reitschuster“.
Bild: Screenshot Reuters
Text: wal
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