Es ist eine erstaunliche Prognose, die jetzt auf einer Internetseite des Internationalen Währungsfonds (IWF) von vier Experten veröffentlicht wurde: Wo bisher in der Regel die Schufa-Auskunft und andere „harte Faktoren“ entscheidend waren, ob jemand Kredit bekommt oder nicht, wird das nach Ansicht der vier IWF-Autoren Arnoud Boot, Peter Hoffmann, Luc Laeven und Lev Ratnovski künftig auch vom Online-Verhalten der Kredit-Bewerber abhängen. Auf gut Deutsch wären dann nicht mehr nur die Einkünfte, Arbeitsverhältnis, Immobilien oder bereits bestehende Schulden entscheidend dafür, ob jemand kreditwürdig ist oder nicht, sondern etwa auch, welche Internet-Seiten er besuchte und welche Suchanfragen er stellte.
Die bisherige, traditionelle Methode habe zwei Probleme, heißt es in dem Beitrag: „Harte Information“ sei oft „prozyklisch“ – was dazu führe, dass in guten Zeiten zu leicht Kredite vergeben werden, und in Zeiten des Abschwungs umgekehrt. So könne etwa in den USA selbst ein gut verdienender „Gastarbeiter“ nach der Einreise zuweilen keine Kreditkarte bekommen, weil er keine entsprechende Kreditkarten-Vorgeschichte habe.
„Fintech“, wie die neue Finanztechnologie genannt wird, löse dieses Dilemma, indem es auf verschiedene nichtfinanzielle Daten setze: „Die Art des Browsers und der Hardware, die beim Zugang ins Internet verwendet werden, der Verlauf der Online-Suche und Käufe im Netz“. Weiter heißt es: „Jüngste Forschungsergebnisse erbringen den Beweis, dass diese alternativen Datenquellen, sobald sie auf künstlicher Intelligenz sowie auf maschinellem Lernen gründen, häufig besser sind als herkömmliche Kreditbewertungsmethoden. Sie können die finanzielle Inklusion fördern, etwa dadurch, dass sie Menschen, die keine traditionellen Arbeitsverhältnisse haben, sowie Haushalten und Unternehmen in ländlichen Gebieten mehr Kredite ermöglichen.“
Auf gut Deutsch: Welche Webseiten jemand besucht, welche Social-Media-Kontakte er hat und was er online kauft, wäre dann mitentscheidend für sein Kreditranking, das wiederum heutzutage für viel mehr entscheidend ist als nur für traditionelle Kredite. Selbst ein Handyvertrag ist in der Regel mit einer Schufa-Auskunft verbunden.
Wohin die Reise gehen soll, wird in dem Artikel nicht mal verheimlicht: „Die Innovationen im Bereich Kommunikation werden durch eine Vielzahl digitaler Plattformen vorangetrieben in den Bereichen Social Media, Mobilkommunikation und Online-Shopping. Diese haben einen Großteil des Alltagslebens der Verbraucher durchdrungen; so wird deren digitaler Fußabdruck ausgeweitet und die verfügbare Datenmenge erhöht.“ Und weiter: „Plattformen wie Amazon, Facebook oder Alibaba integrieren immer mehr Finanzdienstleistungen in ihre Systeme und ermöglichen somit den Aufstieg neuer spezialisierter Anbieter, die in Bezug auf Zahlungen, Vermögensverwaltung und Bereitstellung von Finanzinformationen mit Banken konkurrieren.“
Also eine „schöne neue Welt“? Die Prognose auf der Seite des IWF wirft viele Fragen auf: Wenn jemand Internetseiten mit „schlechtem“ Rating besucht, sinkt dann seine Bonität? Könnte das dann auch auf „politisch unzuverlässige“ Seiten ausgeweitet werden? Könnten am Ende gar Leser von „Tagesschau.de“ oder „Spiegel.de“ als kreditwürdiger eingestuft werden als etwa die der „Achse des Guten“ und von „Tichys Einblick“? Also bloß nicht mit den „falschen“ Menschen befreundet sein auf Facebook? Und auf keinen Fall „falsche“ Suchworte bei Google eingeben? Klar, das ist Zukunftsmusik. Aber da generell das Surfverhalten dafür genutzt wird, um Personenprofile anzulegen, ist nichts mehr ausgeschlossen. Das Beispiel China zeigt, wohin die Reise gehen kann. Deshalb löste der Beitrag bei einigen Lesern heftige Befürchtungen aus. Sogar das böse Wort „Gesinnungs-Schufa“ fiel. Das lässt sich aus dem Artikel nicht herleiten. Eine entsprechende Missbrauchs-Gefahr aber sehr wohl.
Die Autoren sehen jedenfalls große Umwälzungen auf uns zukommen: „Das Potenzial der Finanztechnologie, weltweit rund eine Milliarde Menschen zu erreichen, die bisher nicht im Banksystem integriert sind, und die Veränderungen in der Struktur des Finanzsystems, die daraus entstehen, können revolutionär sein.“
Fürwahr.
Damit sie das auch wirklich sind, appellieren die Experten auf der IWF-Seite an die Politik, die neuen Finanztechnologien sorgfältig zu unterstützen, dafür politische und rechtliche Rahmenbedingungen anzupassen und dadurch „an der Spitze“ der Innovation zu bleiben.
Fast so interessant wie der Artikel ist die Tatsache, dass er, obwohl schon Ende Dezember erschienen, in deutschen Medien fast durch die Bank ignoriert bzw. totgeschwiegen wird.
So sehr man sich hüten muss, einen Beitrag von Experten auf dem Blog des IWF überzubewerten oder als Ankündigung misszuverstehen – so wichtig wäre es doch, so eine Zukunftsvision breit zu diskutieren.
Text: br
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