„Keiner darf für sich den Besitz der Wahrheit beanspruchen,
sonst wäre er unfähig zum Kompromiß und überhaupt zum
Zusammenleben; er würde kein Mitbürger, sondern ein Tyrann.
Wer das Mehrheitsprinzip auflösen und durch die Herrschaft
der absoluten Wahrheit ersetzen will, der löst die freiheitliche
Demokratie auf.“
Richard von Weizsäcker bei seiner Antrittsrede als Bundes-
Präsident am 1. Juli 1984.
Ich will noch einmal an die Grundwahrheit in der ganzen Sache erinnern,
dass nämlich, wenn sich mehr Menschen impfen ließen, nur ein Bruchteil
der Intensivbetten derzeit mit Coronapatienten belegt wäre. Das Impfen ist
sicher; es ist wirksam; es ist milliardenfach praktiziert…Ich finde, dass man
sich an diese Grundwahrheit noch einmal erinnern muss.
Steffen Seibert, Regierungssprecher, am 3.11.2021 auf der
Bundespressekonferenz
37 Jahre liegen zwischen diesen beiden Zitaten.
Immer wieder habe ich mich in den vergangenen beiden Jahren gefragt: Wie konnte es zu diesen fatalen Zuständen kommen? Zu einer massiven Spaltung der Gesellschaft, zu Hass und Hetze von denjenigen, die sich als Kämpfer gegen Hass und Hetze sehen, zur völligen Verneinung von „Offenheit und Buntheit“ von denen, die sich genau das auf die Fahnen geschrieben haben? Wie konnte es zur Rückkehr des totalitären Geistes in das moderne Deutschland kommen, das sich dank seiner Vergangenheitsbewältigung dagegen immun glaubt(e)?
Wenn man die Antwort auf diese Frage massiv, und vereinfachend, verdichtet, dann heißt sie, so meine Quintessenz nach vielem Nachdenken: Das Grundelend ist, dass sich viele Politiker und Journalisten (und natürlich nicht nur diese) im Besitz einer Wahrheit wähnen.
Die Geschichte zeigt: Das ging nie gut.
Die gruseligsten Diktaturen basierten auf dem Anspruch auf eine vermeintliche „Wahrheit“.
Wenn die Mächtigen den Besitz der „Wahrheit“ für sich in Anspruch nehmen, ist die Verfolgung von Andersdenkenden („Ketzern“) nicht mehr weit.
Demokratie, Meinungsfreiheit und Freiheit allgemein, die gesamten Errungenschaften, die wir aus der Aufklärung ableiten, auch der Fortschritt der Wissenschaft und in deren Folge der Technik, basieren letztlich darauf, dass sich niemand im Besitz einer allgemein gültigen Wahrheit wähnen darf, wie von Weizsäcker, den ich auch noch persönlich kannte, so richtig feststellte.
Hätten wir zumindest diesen demokratischen Mindestkonsens beibehalten, dann gäbe es keine massive Ausgrenzung, keinen Hass und keine Hetze gegen Menschen, die eine skeptische Haltung zur Corona-Impfung haben (und auch umgekehrt keinen Hass bzw. Beschimpfung von Geimpften oder Impf-Anhängern, der allerdings eine weitaus geringere Rolle spielt, da er allenfalls privat anzutreffen ist, nicht aber medial oder in der Politik). Ohne diesen „Wahrheitsanspruch“ könnten nicht Politiker und Journalisten mit abweichenden Meinungen und Ungeimpfte massiv ausgegrenzt, diffamiert, ja entmenschlicht werden.
Der „Kulturkampf“, den wir aktuell erleben (siehe Interview mit Norbert Bolz), hat seine Wurzeln darin, dass ein kleiner Teil der Gesellschaft, der in Medien und Politik die Hegemonie erkämpft hat, sich im Besitz einer Wahrheit fühlt (einer „Klima-Wahrheit“, einer „Corona-Wahrheit“, einer „Offene-Grenzen-Wahrheit“, einer „Gender-Wahrheit“, usw.) und nun zwangsweise den weitaus größeren Rest der Gesellschaft mit diesen Wahrheiten beglücken will. Sie sozusagen zum Glück und zur „leuchtenden Zukunft“ zwingen. Opportunismus und Trägheit der Masse ebnen der kleinen Minderheit der „Kultur-Revolutionäre“ dabei den Weg. All das kennen wir aus der Geschichte.
Weil wir aber nur auf die alten Erscheinungsformen eben dieser Fehlentwicklungen blicken und völlig vernachlässigen, dass die alten Ungeister stets in neuem Gewand auftreten, neigen wir zu Blindheit gegenüber der neuen Gefahr. Denn mit dem Nationalsozialismus hat sie auf den ersten Blick ebenso wenig gemeinsam wie mit dem internationalen Sozialismus à la DDR und Sowjetunion.
Dass die aktuelle Entwicklung aber auf ähnlichen Wurzeln und Denkweisen – dem Anspruch auf Wahrheit und totalitärem Denken mitsamt Aggression gegen Andersdenkende – beruht, übersehen wir vor lauter Fixierung auf die genauen Muster der alten totalitären Systeme. Weil wir glauben, Freiheit sei erst in Gefahr, wenn Andersdenkende weggesperrt werden. Weil wir uns sicher sind, dass Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat ein Naturzustand sind.
Auf die gesamte Geschichte der Menschheit bezogen waren die Phasen, in denen Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat herrschten, extrem kurze Momente. Die absolute Ausnahme. Die meistens dann zustande kam, wenn ein massives Unglück die Menschen geläutert hatte. Wie nach dem Zweiten Weltkrieg.
Wie verwöhnte Kinder haben wir die Lektionen der Geschichte wieder vergessen.
Und sind damit dazu verurteilt, sie zu wiederholen. Wenn auch in – wie immer – neuer Gestalt.
Ja, ich gebe zu, das ist ein weiter Bogen zwischen Seiberts Aussage und diesen Schlussfolgerungen.
Doch ich wollte schon lange darüber schreiben, dass ich den „Wahrheitsanspruch“ in Politik und Medien für absolut fatal halte. Herr Seibert hat mir dann mit seiner Formulierung den Anstoß gegeben, das Thema endlich anzupacken.
PS: Sollte ich irgendwann einmal auf Abwege geraten, und glauben, Ihnen selbst irgendwelche absoluten „Wahrheiten“ verkünden zu wollen, etwa unter dem Deckmantel einer vermeintlichen „Haltung“, wie so viele heutzutage, dann hauen Sie mir bitte – nur nicht buchstäblich, aber verbal – gründlich auf den Kopf! Bitte hinterfragen Sie immer alles, was ich schreibe, informieren Sie sich aus den verschiedensten Quellen! Aber das machen Sie ohnehin, sonst wären Sie keine Leser meiner Seite! Dafür danke!
Realsatire in der Frankfurter Allgemeinen.
Unfassbar.
Die sind sogar noch stolz darauf, dass sie "Haltungsjournalismus" betreiben, und werben genau damit.
Wie weit kann man sich von seinen Lesern entfremden? pic.twitter.com/03UOFo4ysw— Boris Reitschuster (@reitschuster) November 4, 2021
Bild: Shutterstock
Text: br
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