Darf man Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir von den Grünen mit Stasi-Chef Erich Mielke vergleichen? Man darf. Genauso wie man Adolf Hitler mit Mahatma Gandhi vergleichen darf und Karl Lauterbach mit Charlie Chaplin oder Stalin. Denn obwohl viele in Deutschland das regelmäßig verwechseln, ist ein Vergleich etwas ganz anderes als eine Gleichsetzung. Vergleichen darf man alles und jeden – und wird dabei meistens zu der Einsicht kommen, dass es wenig Gemeinsames gibt. Gleichsetzen kann man dagegen nicht so viel. Und Özdemir mit Mielke gleichzusetzen, wäre völlig abwegig und – mit Verlaub – nicht nur eine Dummheit, sondern eine Frechheit.
Dennoch musste ich an Erich Mielke und seinen letzten Auftritt in der Volkskammer („Ich liebe Euch doch alle!“) denken, als ich heute eine nur 20 Sekunden lange Filmsequenz auf Twitter sah, in der Özdemir zu protestierenden Bauern spricht. Genauer gesagt: Es versucht. Selten gibt es so viel Dramatik in einem so kurzen Video, das im Wesentlichen nur ein Gesicht zeigt. Özdemir redet dabei zunächst zu den protestierenden Bauern. Zuerst klammert er sich dabei an das Blatt, von dem er abliest. Dann, nach rund zehn Sekunden, kommt er ins Stocken. Richtet den Blick auf von dem Blatt und beginnt in die Menge zu schauen – die wütend skandiert: „Ampel weg!“ Was ein bisschen so klingt wie „Die Mauer muss weg“.
Ab diesem Moment beginnt ein psychologisch höchst interessantes Augenkino (anzusehen hier). Man spürt förmlich, wie die Realität bei Özdemir einschlägt. In einem Moment reißt er die Augen weit auf – und sodann ist etwas zu erkennen in seinem Blick, was in meinen Augen Entsetzen, ja einen Hauch von Verzweiflung zeigt. Özdemir scheint in diesem Moment aus dem Elfenbeinturm der „Ampel“ gerissen zu sein, aus der Schein-Wirklichkeit, die auch willfährige Journalisten den Politikern vorspielen: Er scheint unsanft gelandet in der Realität, in der seiner Politik bzw. seiner Regierung blanker Unmut, wenn nicht gar Hass entgegenschlägt.
Özdemir zieht, wohl unwissentlich, seine Mundwinkel weit nach unten. Er ringt um Fassung. Nicht sonderlich erfolgreich. Seine Augen blicken ins Leere, scheinen dann zu kreisen, so als ob sie Halt suchen. Fast schon desorientiert. Im ersten Moment musste ich sogar an die Bilder aus Bukarest vom Dezember 1989 denken, die Nicolae Ceaușescu, den sozialistischen Diktator in Rumänien, zeigten, wie er das letzte Mal von einem Balkon zu den Menschen sprach. Ich verkniff mir diesen Gedanken sofort – denn Ceaușescu war ein Schlächter und wurde selbst wenige Stunden nach dieser letzten Rede abgesetzt und faktisch standrechtlich erschossen.
Özdemir dagegen ist innerhalb der Ampel einer derjenigen, die noch am meisten Bodenhaftung haben. Als einziger bekannter rot-grüner Politiker sprach er AfD-Chef Tino Chrupalla nach dem Anschlag auf ihn sein Mitgefühl aus und verurteilte die Tat. Er war gegen die Zumutungen für die Bauern, gegen die diese jetzt protestieren. Aber er wurde von seinen Koalitionsfreunden überstimmt. Also bei aller Kritik an den Grünen und dieser Regierung – bei Özdemir gibt es nicht einmal einen Hauch von Ceaușescu. So viel Fairness und Realitätssinn muss sein.
Aber warum, so frage ich mich jetzt beim Schreiben dieser Zeilen, kommen mir dann solche Assoziationen in den Kopf? Stasi-Chef Mielke. Der grausame Ceaușescu. Und zwar genau in den Momenten, in denen der Eindruck entsteht, dass sie plötzlich und unvermittelt mit einer Realität konfrontiert wurden, mit einem Protest gegen die eigene Person, den sie vorher so nicht für möglich gehalten haben. Und der sie augenscheinlich bis ins Knochenmark erschüttert. Das haben die Bilder – bei allen riesigen Unterschieden – wohl gemeinsam.
Özdemir muss man zugutehalten, dass er anders als seine Mit-Regierenden den Mut hat, sich einer wütenden Menge mehr oder weniger freiwillig zu stellen. Sich so etwas bei Dauergrinser Olaf Scholz, dem Schönredner Habeck oder Annalena „Cicero“ Baerbock auch nur vorzustellen, übersteigt meine Phantasie. Wenn schon der Minister, der wohl noch am meisten Bodenhaftung hat und am wenigsten abgehoben ist, derart hart nagt am Aufprall in der Realität und dem Unmut der Menschen – wie würden wohl die Reaktionen von Scholz, Habeck, Baerbock & Co. aussehen?
Die Szene mit Özdemir ist ein Fanal dafür, wie weit sich diese Regierung nicht nur von der Lebenswirklichkeit der Menschen im Land entfernt hat – sondern wie unfähig sie ist, die Stimmungen da draußen in ihrer Berliner Blase noch wahrzunehmen. Wenn sie ungefiltert von bauchpinselnden Medien auf sie einprasselt.
Die Landung für die Ampel wird nicht sanft werden. Man kann nur hoffen, dass sie friedlich wird.
Aber anders als etwa die Franzosen oder die bereits erwähnten Rumänen zeigt unsere Geschichte, auch die der DDR, dass die Mehrheit hierzulande eine Engelsgeduld mit ihren Regierenden hat – egal, was die machen. Weshalb vermeintliche „Umstürze“ auch herbeifantasiert werden müssen – zur Abschreckung für schlichte Gemüter. Wie etwa durch die Saga vom „Rollator-Putsch“. Denn ein größeres revolutionäres Potential als ein paar durchgeknallte Rentner, die nach vielen Flaschen Wein mit ein paar Jagdflinten und einer Armbrust die Macht übernehmen wollen, gibt es hierzulande nicht.
So beruhigend das einerseits ist – so sehr ist es andererseits erschreckend, dass auch das Potential für friedlichen Massen-Protest überaus gering erscheint.
PS: Kommentar meines Korrektors: „Traurig, dass wir von so vielen Gestalten regiert werden, die keine Ahnung von ihrem Ministerium haben. Özdemir als gelernter Erzieher gehört leider auch dazu. Sie treffen – von Ideologien und mangelndem Fachwissen getrieben – Entscheidungen, die Millionen Menschen die Existenz kosten können.“
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