Eine meiner engsten Freundinnen, eine ebenso grundsolide wie wunderbare Beamtin, hat mir eine Nachricht geschrieben über die Erlebnisse von Flüchtlingen aus der Ukraine, die engen Kontakt mit einer nahen Verwandten von ihr hatten. Sie flohen aus Butscha – der Stadt, die jetzt in den Schlagzeilen ist, wegen der mutmaßlichen Massaker der russischen Armee an Zivilisten dort. Meine Freundin hat sie persönlich getroffen und lange mit ihnen gesprochen. Sie stand selbst noch unter Schock. Ich habe sie gebeten, zusammenzuschreiben, was ihr die Familie erzählt hat. Ich bin zutiefst entsetzt. Über die Gräueltaten selbst ebenso wie über Kommentare, die in den sozialen Netzwerken verbreiten, die Ukrainer hätten das selbst inszeniert. Sie verweisen dabei auf angebliche Bewegungen der Leichen – die aber leicht als Artefakte durch die Kompression der Videos zu erkennen sind. Das zeigt, wie effektiv die Kreml-Propaganda in Russland arbeitet.
Hier der Bericht meiner Freundin:
Sveta ist Mitte 50 und stammt aus Donezk, von dort ist sie vor acht Jahren gemeinsam mit ihrer Familie in die Westukraine geflohen. Alle fanden in Butscha ein neues Zuhause. Mit den Jahren verblassten die Erinnerungen an das im Donbass Erlebte allmählich. Der Alltag verlief normal – bis zum Morgen des 25. Februar – da brachen alle alten Wunden wieder auf.
#Bucha. A woman shows soldiers where she hid the body of her daughter killed by #RussianArmy when she stepped outside their house.#RussianWarCrimes #BuchaMassacre #ArmUkraineNow #StandWithUkraine #PutinIsaWarCriminal #РоссияСмотри #нетвойне pic.twitter.com/8FV3rvvPeX
— olexander scherba🇺🇦 (@olex_scherba) April 3, 2022
Inzwischen ist April und Sveta lebt seit drei Wochen mit Tochter, Schwiegertochter und den vier Enkeln in einer kleinen Wohnung gegenüber der Kirche in einem kleinen Dorf in Thüringen. Sie ist still und verängstigt, doch voller Dankbarkeit für die Hilfe, die sie seit drei Wochen hier erlebt. Keiner der sieben spricht Deutsch, deshalb war allen die Erleichterung anzusehen, als Birthe an ihrer Tür klingelte und sich auf Russisch vorstellte. Zu ihr fassten alle schnell Vertrauen. Auf deren Frage, woher sie kommen, antworte Sveta zuerst nur, aus Butscha, dem Ort, an dem das Schlimmste vom Schlimmen passiert, dabei liefen ihr Tränen übers Gesicht. Inzwischen sehen sich Sveta und Birthe sehr oft und telefonieren täglich. Lena, Svetas Tochter, hat gestern erzählt, was am 25. Februar passierte: „Gegen fünf Uhr morgens waren Schüsse und Einschläge zu hören, die Fenster zersplitterten und keiner begriff sofort, was geschah. Unser Wohngebiet wurde mit Raketen beschossen, mein Mann und ich warfen uns über die Kinder und krochen mit ihnen ins innenliegende Bad. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir zu viert dort hockten. Irgendwann schlichen wir in den Keller, dort war es sehr eng. Bald hieß es, dass nur wir Mütter mit den Kindern in den Keller dürfen. Meine Eltern und mein Bruder mit seiner Familie wohnten im Nachbareingang. Wir haben uns dann schon am nächsten Tag alle in unserer Wohnung getroffen. Wenn es ruhig war, haben sich die Männer kurz auf die Straße getraut. Es war furchtbar, was sie gesehen haben. Die russischen Soldaten durchkämmten die Häuser völlig wahllos, sie plünderten die Wohnungen, trugen Möbel, Kühlschränke und sogar Türen raus. Auf der Straße stand ein Kamas-Lkw, dorthin wurde alles verladen. Zwischendurch erschallten die Schüsse aus den Treppenhäusern.“ Sveta ergänzte: Es waren ganz junge Soldaten, wenn sie Essen und Trinken aus unseren Wohnungen gestohlen hätten, das hätten wir verstanden. Aber das war ein Verbrechen.“
Nach zehn Tagen und Nächten in den Kellern – am Ende mit kaum noch Lebensmitteln – ergab sich die Chance, aus Butscha zu fliehen; mit zwei Autos fuhren die Familien in die Westukraine, dort sind die Männer noch heute und kümmern sich um andere Binnenflüchtlinge. Sveta, Lena, Schwiegertochter Anna und die Kinder ergatterten Plätze in einem Zug von Lemberg nach Berlin. Nun im ruhigen kleinen thüringischen Dorf werden sie von so vielen unterstützt, doch mit jedem Tag wird den drei Frauen bewusster, durch welche Hölle sie gegangen sind. Sveta, die selbst Psychologin ist, weiß: „Wir sind heftig traumatisiert und werden noch lange brauchen, bis wir wieder wirklich ruhig schlafen können.“
Vorhin hat sie wieder mit Birthe telefoniert und ihr erzählt, dass der heutige Tag besonders schwer für sie alle ist. Sie waren am Morgen im Gottesdienst, da hat Sveta bemerkt, dass sie ohne die vielen Gebete der letzten Wochen diese Schrecken wohl nicht überstanden hätte.
„Bis gestern kannte keiner Butscha, heute wissen alle, was wir durchgemacht haben. Es ist alles so brutal gewesen. Ich bete immer weiter, damit der Krieg ein Ende findet, damit unsere Wunden der Seele heilen und meine Enkel wieder lächeln können.“
Das Leid in der Ukraine ist unermesslich. Es trifft auch viele Freunde von mir, weswegen es mich ganz besonders bewegt. Bitte helfen Sie den Menschen dort – hier finden Sie eine Übersicht, wie Sie helfen können.
Bild: Ronaldo Schemidt
Text: br
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