Früher kannte kaum jemand den Begriff Triage. Er stammt aus der Militärmedizin und steht für Situationen, in denen Ärzte aufgrund von mangelnden Behandlungs-Kapazitäten entscheiden müssen, wen von den Kranken sie überhaupt behandeln können und wen nicht. Wer weniger Chancen hat, bleibt dann – buchstäblich – liegen. Im Zusammenhang mit Covid-19 wurde auch in Deutschland immer wieder vor Situationen gewarnt, in denen es in Intensivstationen zu einer Triage kommen könnte. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sprach bereits Ende vergangenen Jahres von Triage-Fällen in Deutschland – wobei bis heute unklar ist, worauf er sich da konkret bezog. Einziges Indiz: Ein Zittauer Oberarzt hatte im Dezember geäußert, in seinem Krankenhaus müsse bereits Triage angewendet werden. Bestätigt wurde das aber nicht.
Jetzt kommt aus Wien die Meldung, dass dort tatsächlich genau diese so gefürchtete Lage eingetreten ist. Allerdings nicht bei Covid-19-Patienten. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der österreichischen Hauptstadt „kommt es zunehmend zu der Situation, die man in den Intensivstationen vermeiden will, und zwar zu einer Triage. Die Ärztinnen und Ärzte am AKH müssen entscheiden, wer zuerst behandelt wird“, heißt es in einem Bericht der Nachrichtensendung ZIB des öffentlich-rechtlichen österreichischen Rundfunks ORF 2 (anzusehen hier). Die Probleme sind dem Bericht zufolge eine Folge der Corona-Maßnahmen, die junge Menschen besonders treffen. Also eine Gruppe, die anders als viele andere kaum eine Lobby hat.
Betroffen sind dem Bericht zufolge vor allem Kinder und Jugendliche aus stabilen familiären Verhältnissen, die vor einiger Zeit noch völlig gesund waren. Und die jetzt plötzlich an Depressionen leiden, an akuter Selbstmordgefahr oder Essstörungen. Der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie des AKH, Paul Plener, berichtet in dem ZIB-Beitrag des ORF, es gebe mittlerweile Wartezeiten von bis zu drei Monaten für die stationäre Behandlung. Laut einer Studie leidet mittlerweile mehr als die Hälfte der Jugendlichen und jungen Erwachsenen an depressiven Symptomen. Die Zahl der schweren Fälle habe sich verzehnfacht; viele Jugendlichen sagten, ihr Akku sei leer, sie schafften morgens kaum noch den Schritt aus dem Bett, berichtet Plener. Die Zahl der besonders schweren Fälle habe sich beinahe verzehnfacht. „Die Vermutung liegt nahe, dass das schon auch eine längerfristige Auswirkung haben wird, dass dies nicht von heute auf morgen in den Griff zu bekommen ist, auch wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen“, sagt der Psychotherapeut Christoph Pieh in dem Beitrag.
Das Thema von psychischen Folgen der Corona-Maßnahmen ist in Deutschland kaum präsent in der öffentlichen Diskussion. Es wird weitgehend tabuisiert. Ich schreibe diesen Bericht direkt in der Bundespressekonferenz mit Jens Spahn und RKI-Chef Lothar Wieler. Weil ich hier schon meine Wortmeldung „verbraucht“ habe, werde ich zu der Nachricht aus Wien in der gleich folgenden Regierungspressekonferenz mit Merkels Sprecher Steffen Seibert eine Frage stellen. Und zwar danach, wie psychologische Probleme in Folge der Corona-Maßnahmen erfasst werden, welche Erkenntnisse hierzu vorliegen und wie die Lage in der Psychiatrie ist.
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Text: br