Ukraine-Krieg verschärft den Lehrermangel in Deutschland dramatisch Seit Jahren überfordertes Bildungswesen steht vor endgültigem Kollaps

Von Kai Rebmann

Wieder einmal wird die deutsche Politik unsanft aus ihrem Dauerschlaf gerissen und dafür bestraft, dass sie vor schon seit Jahren bekannten Problemen konsequent die Augen verschlossen hat. Der Lehrermangel an deutschen Schulen und die Tatsache, dass dieses Problem sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird, sind zumindest für unabhängig arbeitende Experten nichts Neues. Bereits im Jahr 2013, also weit vor der Flüchtlingskrise 2015 und dem Beginn des Kriegs in der Ukraine, kam die OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ zu dem Ergebnis, dass Deutschland im europäischen wie globalen Vergleich mit die größten Schulklassen hat. In der Primarstufe (Grundschule) wurden in Deutschland schon damals durchschnittlich 21,2 Schüler pro Klasse unterrichtet, in der Sekundarstufe I waren es sogar 24,6 Schüler pro Klasse. Mit Ausnahme von Frankreich (24,7) hatte in dieser Altersklasse kein anderes Land in Europa größere Schulklassen als Deutschland, in den Grundschulen gab es nur in der Türkei (26,1), Großbritannien (24,8) und Frankreich (22,7) mehr Schüler pro Klasse.

Dass diese Zahlen auch heute noch belastbar sind, zeigen Erhebungen der Kultusministerkonferenz (KMK) aus dem vergangenen Jahr. Sowohl in den Grundschulen (20,9) als auch in den Schulen der Sekundarstufe I (23,8) gingen die Zahlen nur minimal zurück. Parallel zur Veröffentlichung dieser Zahlen wurde von der KMK eine Berechnung zur Entwicklung des Lehrermangels in Deutschland bis zu den Jahren 2025 und 2030 angestellt. Diesem Zahlenwerk zufolge sollen in der Bundesrepublik bis zum Jahr 2025 insgesamt 20.000 Lehrer fehlen, bis zum Jahr 2030 soll es „nur“ noch 14.000 zu wenig Lehrkräfte geben. Damit wollte die KMK ganz offensichtlich den Eindruck erwecken, dass es bei der Bekämpfung des Lehrermangels in Deutschland in die richtige Richtung gehe.

Experten kritisieren KMK-Zahlen als „grotesk“ und „in hohem Maße“ unseriös

Dumm nur, dass die KMK und deren Präsidentin, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU), mit ihrer positiven Annahme ziemlich alleine dastehen. Dass diese Zahlen kaum das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben wurden, haben zahlreiche Experten schon vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges gezeigt. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) hat im vergangenen Jahr den Bildungsforscher Klaus Klemm aus Essen damit beauftragt, die Zahlen der KMK auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Die Erkenntnisse des Fachmanns sind eine schallende Ohrfeige für das Bildungswesen in Deutschland. Klemm rechnet damit, dass bis zum Jahr 2025 45.000 Lehrer fehlen werden und bis zum Jahr 2030 81.000 Lehrer. Die Berechnungen des unabhängigen Bildungsforschers liegen also jeweils um ein Vielfaches über den Annahmen der KMK.

Klemm warf den Bundesländern in der Süddeutschen Zeitung vor, einerseits das künftig vorhandene Angebot an Lehrkräften zu überschätzen und andererseits die Zahl der Schüler zu unterschätzen. So gehe zum Beispiel Sachsen davon aus, Jahr für Jahr genauso viele Lehrer zur Verfügung zu haben, wie an den Schulen des Freistaats benötigt würden. Diese Vorhersagen bezeichnete der Experte als „grotesk“ und „in hohem Maße unseriös“. VBE-Chef Udo Beckmann sprach in diesem Zusammenhang von einer „riesigen Mogelpackung“ und forderte von den verantwortlichen Politikern „umgehend und vollumfänglich die dringend notwendigen Konsequenzen aus den vorliegenden Erkenntnissen abzuleiten und endlich aufzuhören sich den tatsächlichen Lehrkräftebedarf schönzurechnen.“ Wohlgemerkt, alle diese Zahlen und Aussagen stammen aus der Zeit vor dem Ukraine-Krieg.

IW-Studie sieht kurzfristigen Bedarf von bis zu 28.900 Lehrerstellen

Dr. Wido Geis-Thöne arbeitet am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln und ist Experte für Familienpolitik und Migrationsfragen. Aus aktuellem Anlass hat sich Dr. Geis-Thöne mit den möglichen Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf das deutsche Bildungssystem befasst und eine Studie dazu durchgeführt. Zum Stichtag am 5. Mai 2022 waren in Deutschland rund 242.000 schulpflichtige Minderjährige aus der Ukraine registriert, wobei sich diese Fluchtzuwanderung seither unvermindert fortgesetzt hat, wie der Autor der Studie einleitend ausführt. Dies entspreche einem Anteil von 3,5 % der Kinder und Jugendlichen, die vor Ausbruch des Kriegs in der Ukraine gelebt haben.

Da mit zunehmender Dauer des Ukraine-Krieges mit weiteren minderjährigen Flüchtlingen zu rechnen sein wird und diese kurzfristig und für eine unbestimmte Dauer in das deutsche Schulsystem integriert werden müssen, hat sich Dr. Geis-Thöne in seiner Studie mit verschiedenen Szenarien befasst und den daraus jeweils resultierenden Bedarf an neuen Lehrerstellen berechnet. Zunächst ging der Migrationsforscher von den aktuell schon in Deutschland befindlichen ukrainischen Schülern aus. Für den Fall, dass die bisherigen Klassengrößen in der Primarstufe (20,9 Schüler) und der Sekundarstufe (23,8 Schüler) beibehalten werden sollen, würden dafür 13.500 neue Lehrer benötigt. Dr. Geis-Thöne weist jedoch darauf hin, dass dies nicht ohne weiteres möglich ist, da viele Flüchtlinge keine ausreichenden Sprachkenntnisse haben. Daher regt er die Einrichtung von sogenannten „Willkommensklassen“ an, in denen jeweils bis zu 15 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine unterrichtet werden könnten. Hierfür hat der Experte einen zusätzlichen kurzfristigen Bedarf von 20.200 Lehrern ermittelt.

Im nächsten Schritt rechnete Dr. Geis-Thöne diese beiden Szenarien erneut durch, jedoch unter der Annahme, dass 5 % der ehemals in der Ukraine lebenden Schüler künftig in Deutschland unterrichtet werden müssen. Bei einer Beibehaltung der bisherigen Klassengrößen wurde ein Bedarf von 19.400 neuen Lehrern ermittelt. Sollen die ukrainischen Flüchtlinge hingegen in separaten „Willkommensklassen“ unterrichtet werden, so könnte der Bedarf nach Ansicht des Forschers auf bis zu 28.900 Lehrerstellen ansteigen.

Kurzfristige Lösungen sind rar gesät

Zu den üblichen Vorschlägen, mit denen das jahrelange Versagen in der Bildungs- und Schulpolitik verschleiert werden soll, gehören regelmäßig die Reaktivierung bereits im Ruhestand befindlicher Lehrer, die Erleichterung des Quereinstiegs oder die Anhebung des Renteneintrittsalters. Daran, wie man diesen Beruf für Studienanfänger wieder attraktiver machen kann, um auf diesem Wege langfristige Konzepte gegen den massiven Lehrermangel in Deutschland zu entwickeln, scheinen in den deutschen Kultusministerien nicht sehr viele Gedanken verschwendet zu werden. Hätte man das spätestens mit Bekanntwerden der oben zitierten OECD-Studie vor rund zehn Jahren getan, so wäre die Situation heute wohl eine vollkommen andere.

Nun ist das Kind aber in den Brunnen gefallen und guter Rat teuer. Zu den naheliegenden Lösungsansätzen gehört die Einstellung von ukrainischen Lehrern an deutschen Schulen, was teilweise auch schon praktiziert wird. Nach Informationen des Handelsblatts arbeiten derzeit rund 2.300 Lehr- oder Hilfskräfte aus der Ukraine an deutschen Schulen, weitere rund 1.600 Bewerbungen sollen den Bundesländern vorliegen. Eine wirkliche Lösung des Problems kann dies aber nicht darstellen. Erstens würden immer noch tausende, wenn nicht zehntausende Lehrer fehlen, und zweitens können diese ukrainischen Lehrkräfte aufgrund von Sprachbarrieren zum weit überwiegenden Teil nur Kinder und Jugendliche aus deren Heimatland unterrichten. Dies wiederum würde zwangsläufig zu einer Isolation der Schüler aus der Ukraine führen, was weder die Flüchtlinge selbst noch die deutsche Gesellschaft wirklich wollen können.

Die Katze scheint sich also einmal mehr in den eigenen Schwanz zu beißen. Wie schon beim seit Jahren bekannten Notstand in der Pflege, als die Politik durch Corona aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen wurde und hektisch gegenzusteuern versuchte, brauchte es nun auch in der Bildungspolitik einen unsanften Weckruf von außen. Zu denken geben sollte aber auch, was die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka über die deutschen Schulen zu sagen hat: „Der Unterricht in der Ukraine ist intensiver, vollzieht sich in kürzerer Zeit als in Deutschland und hat ebenso höhere Anforderungen“, teilte die Diplomatin im März dem Tagesspiegel mit. Tybinka hatte sich in diesem Zusammenhang gegen „Willkommensklassen“ und für einen Unterricht auf Ukrainisch und nach ukrainischen Rahmenplänen ausgesprochen, da es sich nur um einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland handele.

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David
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.

Bild: Shutterstock
Text: kr

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