Unsere Schwäche und unser Wegsehen haben Putin ermutigt Die Geschichte eines historischen Versagens

Ich hätte so gerne Unrecht behalten. Ich hätte mich so gerne geirrt. In meinem Buch „Putins Demokratur“ habe ich schon 2006 vor dem gewarnt, was wir jetzt erleben. Ich wurde dafür verlacht und angefeindet. Als Langzeit-Beobachter von Putins Politik direkt in Moskau musste man blind sein oder sich selbst belügen, um nicht zu sehen, wie militaristisch und revanchistisch der russische Präsident denkt. Wie er bei jeder Gelegenheit von den früheren Erniedrigungen und Beleidigungen sprach, die Russland und auch er erlitten hätten – und ihm alles danach stand, es dem Westen dafür heimzuzahlen. Und vor allem: Wie er ein ums andere Mal mit außenpolitischen Aggressionen von innenpolitischen Problemen ablenkte. Diese Methode hat nicht er erfunden. Aber das Fatale daran: Wie bei einer Drogensucht muss die Dosis ständig erhöht werden, der Konflikt größer, der gefeierte Triumph noch riesiger sein. Dass die nächste, größere Aggression kommt, war klar. Die Frage war nur: Wann und wie?

Putins Propaganda und seine fünfte Kolonne im Westen sind überaus erfolgreich. Vor allem in Deutschland. Schon die Mongolen, die Russland lange beherrschten, waren dafür bekannt, dass sie Einflussagenten in Städte schickten, bevor sie diese eroberten. Die erzählten dort, wie gut es die Mongolen mit den Menschen meinten, wie friedlich sie seien und dass es sich unter mongolischer Herrschaft sehr viel besser lebe. Folgt man nur den Kommentaren in den sozialen Netzwerken, bekommt man den Eindruck, dass diese Desinformations-Methoden bis heute aktiv sind. Doch ebenso falsch, wie es wäre, zu glauben, dass dahinter nicht auch organisierte Aktionen und Trolle stecken, ebenso falsch wäre es, diese nur auf Trolle zurückzuführen.

Putins Propaganda ist nur deshalb so erfolgreich, weil das Vertrauen der Menschen bei uns in die eigenen Institutionen massiv gesunken und bei vielen sogar verloren ist. Was ich bestens nachvollziehen kann. Gabriele Krone-Schmalz, die seit ihrer Zeit als ARD-Korrespondentin in den frühen Jelzin-Jahren nicht mehr in Russland lebte, beschreibt in ihren Büchern sehr, sehr lange die vielen Fehler des Westens. So sehr man über Details streiten mag: Tatsächlich hat der Westen viele Fehler gemacht. Wer sich aber, wie Krone-Schmalz, als Russland-Experte nur auf die Fehler des Westens konzentriert, führt seine Leser damit in die Irre. 

Ich bin kein Amerika-Experte und deshalb müssen Sie sich über die Fehler etwa der USA in anderen Quellen informieren – es gibt sie zuhauf. Aber als Russland-Experte sehe ich, dass das einseitige Bild, das Putins Unterstützer im Westen zeichnen, die Realität verzerrt. Etwa bei dem vermeintlichen Versprechen, die NATO werde nicht nach Osten „vorrücken“. Diskutiert wurde darüber 1990, wenn man neuen Aktenvermerken Glauben schenken will (obwohl etwa Michail Gorbatschow das Gegenteil sagt). Aber in den Verträgen findet sich nichts dazu. Und es beleidigt geradezu die Intelligenz der Russen, ihnen zu unterstellen, sie wüssten nicht, dass nur das verbindlich ist, was in den Verträgen steht. In der NATO-Russland-Grundakte hat Moskau die NATO-Osterweiterung akzeptiert. Zudem existiert die Sowjetunion nicht mehr. Drei ihrer Nachfolgestaaten sind in der NATO, zwei wollen in die NATO. Und zwar wegen der aggressiven Politik Moskaus, wo man ständig damit kokettiert, die Nachbarländer zu erobern. 

Die Sorge um die Ängste der Russen, die in Wahrheit vor allem die Ängste der kleinen Clique um Putin sind, ist in Deutschland allgegenwärtig. Man müsse doch den Kreml-Herrn und seine Sicherheitsinteressen verstehen, und Deutschland habe da eine historische Verantwortung, so das Mantra. Völlig ausgeblendet werden dabei die Sicherheitsinteressen der Ukraine, eines der größten Länder Europas mit über 40 Millionen Einwohnern. Die musste nicht nur mit Weißrussland im Zweiten Weltkrieg am meisten unter Hitlers Angriffskrieg leiden; Millionen Ukrainer starben beim gezielten Mord durch Aushungern in den 1930er Jahren, dem Holodomor, den der damalige Kreml-Chef Stalin anordnete.

Warum ist in Deutschland so gut wie gar nicht von den berechtigen Ängsten der Ukrainer und der historischen Verantwortung ihr gegenüber die Rede? Warum glauben so viele in Deutschland, man könne über diese mehr als 40 Millionen wie über unmündige Kinder entscheiden?

Warum hört man in Russland so viel vom angeblichen „Vertragsbruch“ der NATO – aber nicht von dem von Russland. Moskau hat der Ukraine im Budapester Memorandum versprochen, dafür, dass Kiew auf seine Atomwaffen verzichtet, künftig Garant der territorialen Integrität der Ukraine zu sein. Und Moskau tut das Gegenteil: Es tritt diese territoriale Integrität seit Jahren mit Füßen. Dieser eklatante Vertragsbruch wird bei uns kaum thematisiert.

Putin-Kritiker in Kiew wie Moskau sprechen von einem „Molotow-Ribbentropp-Komplex“ in Deutschland – in Anspielung auf den Hitler-Stalin-Pakt, in dem beide Diktatoren Osteuropa für ihre Raubzüge unter sich aufteilten.

Ich habe Putins Entwicklung seit 1999 aus nächster Nähe verfolgt und ihn oft persönlich erlebt. Es war die Schwäche des Westens, die ihn immer mehr im Glauben wiegte, er könne sich alles erlauben. Ich weiß selbst durch meine direkten Kontakte, wie sehr man im Kreml über die „Impotenten“ in Washington und Berlin lacht(e). Das Appeasement vor allem unter Obama und jetzt auch wieder unter Biden war für Putin immer ein „grünes Licht“. Unter einem US-Präsidenten Ronald Reagan, ja selbst unter Donald Trump – den viele für ein Kreml-U-Boot hielten, mich anfangs leider eingeschlossen – wäre es nicht zu einem Angriff Putins auf die Ukraine gekommen. Biden hat das Land faktisch zum Abschuss durch Putin freigegeben. 

Im Kreml wird über Deutschland nur noch gelacht. Über eine Bundeswehr, bei der Gender-Politik und sexuelle Vielfalt gefühlt eine größere Rolle spielt als die Wehrhaftigkeit. Über den Wahn der Deutschen, an ihrem Wesen das Weltklima genesen zu lassen. Und vor allem auch über die Energiewende, die Deutschland noch stärker abhängig von russischen Energielieferungen machte. Vor allem die Deutschen habe es sich einem Taka-Tuka-Land von Pippi Langstrumpf´scher Prägung bequem gemacht – und völlig überstehen, dass in anderen Ländern ganz anders gedacht wurde.

Die fatale Fehleinschätzung der gesamten deutschen Russland-Politik, die über viele Jahre Mahner verlachte, kommt in der wieder und wieder geäußerten Aussage zu Tage, der Ukraine-Konflikt könne nur friedlich und nicht militärisch gelöst werden. Aus unserer Sicht ja. Aber eben nicht aus Putins Sicht. Unsere dauernde Schwäche, unser ständiges Wegsehen haben entscheidend dazu beigetragen, dass Putin sich so stark fühlt, dass er ein Nachbarland angreift.

2001 bei einem Interview mit Putin in Sotschi (hinten rechts: Focus-Gründer Helmut Markwort)

„Um das Vorgehen des Kreml-Chefs in der Ukraine zu verstehen, ist ein Blick in seine Biographie nötig“, schrieb ich schon 2014 in einem Artikel über die Annexion der Krim: „Putin, der Enkel von Stalins Koch, wuchs in einem Leningrader Hinterhof auf – in der Gosse, wo Faustrecht herrschte. Das sei seine ‚Straßenuniversität‘ gewesen, sagte er später. Seine Lehre fürs Leben: Nur der Starke hat Recht, Schwache werden verprügelt.“

Genau diese Prügel verteilt er jetzt. Und wer glaubt, er werde in der Ukraine haltmachen, sollte sich fragen: Hat er vorher geglaubt, dass er die Ukraine überfallen wird?

2014 schrieb ich: „Putin bekannte einst, dass Geheimdienstler ihre Zunge nicht hätten, um ihre Gedanken auszudrücken, sondern um sie zu verschleiern – und er macht keinen Hehl daraus, dass er sich immer noch als KGB-Mann sieht. Seit nunmehr 14 Jahren sagt der Kreml-Chef regelmäßig das Gegenteil von dem, was er tut. Und der Westen glaubt ihm stets aufs Neue, etwa wenn er immer wieder einen Truppenanzug von der ukrainischen Grenze ankündigt oder Bereitschaft zur Verhandlungslösung.“

Es hat sich nichts geändert.

Wie reagieren?

Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Der große Konrad Adenauer hatte vier Maximen im Umgang mit Russland. Hätten wir uns an diese gehalten, wären wir heute nicht da, wo wir stehen. Immer mit Russland reden, immer die Sorgen und Ängste der Russen ernst nehmen und alles unterlassen, was diese provozierte, riet Adenauer. Und: Der Westen muss Einigkeit zeigen. Sowie Wehrhaftigkeit.

Vor diesem Hintergrund war die Drohung mit „Sanktionen“ für Putin geradezu eine Einladung zum Einmarsch. Aus seiner Sicht ist die Chance, Landgewinn ohne großen militärischen Widerstand zu bekommen, so groß wie nie zuvor. Aus seiner Sicht ist die Schwäche des Westens eine Chance, die er sich nicht entgehen lassen kann bei seinem Ziel, die Geschichte und den Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes zu revidieren.

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich.  

Wir haben historisch versagt.

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Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!
Bild: Sebastian Castelier/Shutterstock
Text: br

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