Verfassungsgericht stärkt Parteiwillen – Wähler verlieren Einfluss Kennt das Verfassungsgericht die Verfassung?

Ein Gastbeitrag von Vera Lengsfeld

Anscheinend nicht. Das Urteil des Verfassungsgerichts über die Wahlreform der Ampel ist ein Schlag ins Gesicht der Wähler und eine Stärkung der Parteiwahllisten, bei denen der Wähler keinerlei Mitspracherecht hat. Dabei ist das Grundgesetz eindeutig:

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Durch das Urteil des Verfassungsgerichts ist dieser Satz des Artikels 38 GG praktisch nicht mehr gültig. Wenn, wie von der Ampel gewollt, künftig die Parteilisten stärker sind als die Direktmandate, heißt das nichts anderes, als dass das Mitspracherecht der Wähler in ihrem Wahlkreis „unmittelbar frei“ zu bestimmen, wer sie im Parlament vertritt, ausgehebelt ist. Künftig sollen, wenn es mehr Direktmandate gibt, als die Partei Zweitstimmen hat, Direktkandidaten nicht ins Parlament einziehen dürfen. Damit hat das Gericht, das über unsere Verfassung wachen soll, den Vorstoß der Ampel, den Geist der Verfassung auszuhebeln, unterstützt.

Mit welcher Arroganz die Ampel reagiert, ist atemberaubend. In einem Punkt hat das Gericht nämlich dem Vorhaben der Ampel widersprochen: Die Grundmandatsklausel, nach der eine Partei auch dann in den Bundestag einziehen kann, wenn sie an der 5-Prozent-Hürde scheitert, soll beibehalten werden. In der Vergangenheit hat die SED-Linke von dieser Regelung profitiert. Nach der letzten Wahl ist sie nur dank dreier Direktmandate in den Bundestag eingezogen. Der Vorstoß der Ampel war gegen die CSU gerichtet, die bei der nächsten Wahl zwar die 5 Prozent bundesweit verfehlen könnte, aber durch ihre Direktmandate in Bayern wieder in den Bundestag eingezogen wäre. CSU und Linke können sich freuen, dass der Versuch, die Grundmandatsklausel abzuschaffen, gescheitert ist. Die Ampel müsste also dringend Nachbesserungen an ihrem Entwurf vornehmen. Es sieht nach den ersten Reaktionen nicht danach aus.

Mein Autor Peter Schewe schreibt dazu:

„Die Parteien haben weiterhin einen maßgebenden Einfluss auf die Auswahl derer, die das Wahlvolk wählen darf. Angenommen, ein parteiloser Bewerber erränge in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen. Er hätte nie eine Chance, in den Bundestag zu kommen, da er ohne Parteizugehörigkeit keine Zweitstimme erhielte. Die Parteien haben sich über die Einführung einer Zweitstimme eine Macht erobert, die ihnen nach dem Grundgesetz nirgends eingeräumt wird. Lediglich der Artikel 21 billigt ihnen eine Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes zu. Von einer Rolle, geschweige denn von einem alleinigen Recht, die Kandidaten zu den Bundestagswahlen auswählen bzw. aufstellen zu dürfen, ist im Grundgesetz nichts zu finden. Nicht von rechts oder links oder aus welcher Himmelsrichtung auch immer ist unsere Demokratie gefährdet. Die Angriffe aus der Mitte der Verfassungsorgane selbst sind es, die versuchen, das Grundgesetz und die darauf beruhenden Gesetze ihrem Machtanspruch entsprechend umzugestalten und so unsere rechtsstaatlich verfasste Demokratie zu untergraben. Der Souverän, das Volk, spielt dabei schon längst keine bestimmende Rolle mehr.“

Es ist immer wieder behauptet worden, es gehe um Gerechtigkeit. Jede Stimme müsse zählen. Das meinen die Politiker, die das behaupten, aber nicht ernst. Denn gerecht wäre es, wenn jede Wählerstimme wirklich zählte, es also keine Prozenthürde gäbe, an der kleine Parteien bislang noch scheitern. Bei der Wahl zum Europäischen Parlament ist die Prozenthürde bereits abgeschafft. Hier muss nur eine bestimmte Anzahl von Wählerstimmen erreicht werden, um einen Abgeordneten ins Parlament zu schicken. Außerdem ist die Anzahl der Abgeordneten, die ins Parlament einziehen können, gedeckelt. Was hat die Ampel gehindert, dieses Modell einfach zu übernehmen?

Richtig, die Macht der Parteifunktionäre wäre geschwächt, die Demokratie aber gestärkt worden. Beides liegt offenbar nicht im Interesse der Ampel.

Meine Seite braucht Ihre Unterstützung!

Wenn Sie weiter Artikel wie diesen lesen wollen, helfen Sie bitte mit! Sichern Sie kritischen, unabhängigen Journalismus, der keine GEZ-Gebühren oder Steuergelder bekommt, und keinen Milliardär als Sponsor hat. Und deswegen nur Ihnen gegenüber verpflichtet ist – den Lesern!

1000 Dank!

Aktuell sind (wieder) Zuwendungen via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre:

Über diesen Link

Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71 oder BE43 9672 1582 8501

BITCOIN Empfängerschlüssel auf Anfrage

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.

Mein aktuelles Video

Wie der Staat mit V-Männern selbst Verbrechen produziert: Anwalt aus Reichsbürger-Prozess packt aus

Mein aktueller Livestream

Compact-Verbot – ein Mini-Staatsstreich? Hat sich Faeser selbst ermächtigt? Was kommt als Nächstes?

Ein Wendepunkt, auch in der Weltpolitik? Das Attentat auf Trump – Hintergründe und Folgen

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.


Vera Lengsfeld, geboren 1952 in Thüringen, ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages, zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Sie betreibt einen Blog, den ich sehr empfehle.

Bild: Shutterstock

mehr von Vera Lengsfeld auf reitschuster.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert