Von der Würde eines Friseurbesuchs und von der Würde der Anderen Warum die Stimmung irgendwann kippen wird

Ein Gastbeitrag von Hans-Henning Paetzke

Gleich vorweg: Schon seit nunmehr über sieben Jahrzehnten bin ich ein Friseurmuffel. Einen Friseur suche ich in der Regel nur einmal im Jahr auf. Mit Friseuren stehe ich seit frühester Kindheit gewissermaßen auf Kriegsfuß. Wehrte mich stets gegen die von einer fürsorglichen Mutter verordneten Frisuren, die natürlich nie meinen Vorstellungen entsprachen – wie auch die des Haarkünstlers nicht. Daran hat sich ein Leben lang nichts geändert. Doch geändert hat sich auch nichts an meiner liberalen Einstellung, mich nicht in die Bedürfnisse der vielen Anderen einzumischen, die für meine diesbezügliche Haltung nur ein mitleidiges Lächeln übrig haben. Sollen sie doch jeden Monat, jede Woche, jeden Tag einmal einen Friseur aufsuchen! Ihnen Lohn und Brot gewähren! Die Ergebnisse sind selten zufriedenstellend. Deshalb müssen die Besuche wohl so oft wiederholt werden. Muss geschnippelt und gefärbt werden, was das Zeug hält. Solange es noch etwas zu schnippeln und zu färben gibt.

Darf man sagen, dass mich die Arbeit am Kopf einer ehemals für FDJ-Agitation und Propaganda Zuständigen und inzwischen zu Ruhm und Macht Gelangten keineswegs überzeugt? Wie auch immer, ich akzeptiere die wiedererlangte Freiheit derer, die im Besuch eines Haarstudios endlich ihre Würde zurückerhalten konnten oder können. Dank eines Landesfürsten, dem wohl nicht nur an einer solchen Würde liegt. Sollte sich der Anspruch auf Würde tatsächlich darin erschöpfen?

Würde, Menschenwürde, Freiheit, bürgerliche Freiheit, das sind Begriffe, die in den einschneidenden Beschränkungen unseres täglichen Lebens allmählich im Bereich der Fantasie ein Ersatzdasein führen. Ich für meinen Teil kann meinem Anspruch auf eigentlich grundrechtlich verbriefte Würde und Freiheiten leider nicht mit einem Friseurbesuch Geltung verschaffen. Dennoch gibt es für mich eigentlich nicht viel zu jammern. Denn solange ich ungestört schreiben, übersetzen und lesen, solange ich meine Familie unterhalten kann, scheint die Welt fast in Ordnung zu sein. Zumindest scheint es so. Denn dass ich nicht problemlos meine erste Familie besuchen, diese meinen Besuch nicht ohne Gewissensbisse erwidern kann, dass ich mich gegenwärtig wegen einer verhängten Ausgangssperre nach 20 Uhr nicht mehr auf der Straße aufhalten darf (es sei denn, ich wär‘ ein Hund, der in Ungarn Sonderrechte genießt), überall eine Maske tragen, mich nach Möglichkeit impfen lassen, mich gewissermaßen als menschliches Versuchskarnickel zur Verfügung stellen soll, lässt meine heile Welt Risse bekommen. So kommt es nun, dass ich mich frei fühle und zugleich auch nicht.

Selbst wenn mir persönlich schon aus finanziellen Gründen an Reisen, Gaststättenbesuchen, Shoppingtouren (die in Ungarn nach wie vor möglich sind) und nächtlichem Schwadronieren nicht allzu viel liegt, fühle und leide ich dennoch mit all denen mit, die sich in ihrer Freiheit stark eingeschränkt fühlen. Auch in der Freiheit des Studierens. Denn zu einem Studentenleben gehören seit ewigen Zeiten persönliche Begegnungen, Feten und gemeinsames Lernen, Erfahrungsaustausch und dergleichen mehr. Digital ist all das wie eine Ernährung aus der Dose, ein Leben aus dem Internet, gewissermaßen aus zweiter Hand, aus der Steckdose beziehungsweise aus Akustikwellen, aus Orwells Welt. Irgendwie kein wirklich eigenes Leben mit nicht-virtuellem Sehen, Tasten, Fühlen und Gesehenwerden.

Die globale Politik, in dem einen Land restriktiver als in dem anderen, hat uns in Ketten gelegt. Wie sagte doch eine jugendliche Klimaaktivistin (von einem unsichtbaren Virus wohl vorübergehend aus der medialen Öffentlichkeit verbannt)? „Ihr habt mir meine Kindheit gestohlen!“ In abgewandelter Form könnte ich sagen: „Ihr habt uns unser Leben gestohlen!“

Die Demonstrationen gegen die ungarische Coronapolitik stecken gegenwärtig noch in den Kinderschuhen. In Deutschland und anderen europäischen Ländern ist das anders. Wenn auch nur teilweise von Erfolg gekrönt. Ich lese die deutschen Umfrageergebnisse. Noch wird die Berliner und vor allem Münchner Aushebelung der grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte von einer deutlichen Mehrheit unterstützt. Warum eigentlich? Ich glaube, wegen einer erfolgreichen Agitation und Propaganda. Aber ich bin zutiefst überzeugt davon, dass dieser Erfolg eines nicht allzu fernen Tages in einem Fiasko sondergleichen münden wird. Die Demonstrationen der als Coronaleugner, Rechtsextreme und Nazis verunglimpften Kritiker der Coronapolitik werden von immer mehr Menschen gutgeheißen werden.

Die Stimmung wird irgendwann kippen. Spätestens dann, wenn der teilweise Ruin der Wirtschaft auf das Leben der Allgemeinheit durchschlagen wird: mit hoher Arbeitslosigkeit, Firmensterben und anwachsender Armut. Als Symbolfiguren für einen gewaltlosen Widerstand werden sich Menschen wie einst Mahatma Gandhi und Martin Luther King an die Spitze einer regierungskritischen Bewegung stellen und die Macht derer, die das Volk für dumm verkaufen, kraftvoll zurückschneiden. Wenn man den Umfragen Glauben schenken darf, ist die Zeit dafür noch nicht gekommen. Doch kommen wird sie!

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

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Hans-Henning Paetzke, geb. 1943 in Leipzig, 1960 wegen Verunglimpfung des Staatsoberhaupts der DDR Verweisung von sämtlichen Oberschulen der DDR, 1960-63 Ausbildung als Schauspieler, 1963 fristlose Kündigung durch das Staatliche Dorftheater Prenzlau wegen Verletzung der Staatsbürgerpflichten, 1963–64 Verbüßung einer Gefängnisstrafe wegen Wehrdienstverweigerung, 1967 Abitur, 1967–1976 Studium der Klassischen Philologie, Germanistik und Psychologie in Halle/S., Budapest und Frankfurt/M., 1968 Emigration nach Ungarn, 1973 nach Frankfurt/M., 1981–85 persona non grata in der DDR, 1985–88 persona non grata in Ungarn, 1994 Rückkehr nach Budapest. Seit 1968 freiberuflich als literarischer Übersetzer, Herausgeber, Journalist und Schriftsteller tätig, zirka 90 Buchübersetzungen; Bundesverdienstkreuz, Offizierskreuz der Republik Ungarn u.a.

Übersetzungen aus dem Ungarischen von Péter Esterházy, György Konrád, Péter Nádas, György Petri u.v.a.m.
Letzte Romanveröffentlichungen im Mitteldeutschen Verlag:
Andersfremd (2017)
Heimatwirr (2019)
Zum einsamen Tod eines Landarztes, i.V.
Liebe und Verzweiflung, i.V.

Bild: Nevena Marjanovic/Shutterstock
Text: Gast 

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