Ein Gastbeitrag von Annette Heinisch und Gunter Weißgerber
Julian Reichelt hat in einem kurzen Video-Clip das Engagement Braunschweiger Bürger für den Erhalt des Logos auf ihrem Bier thematisiert. Für ihn ist es exemplarisch für den Wunsch vieler Bürger nach Achtung ihrer Identität – und kaum etwas ist in Deutschland identitätsstiftender als Bier! Das Logo des seit 1627 gebrauten Bieres ist das Kleine Staatswappen des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg, das in der Mitte zwei Löwen zeigt, unten den Orden des Großkreuz Heinrichs des Löwen sowie zwei Wappensprüche: „Immota fides“, also unverbrüchliche Treue ist der eine. Genau diese haben die Braunschweiger bewiesen, übrigens erfolgreich.
Der zweite Wappenspruch lautet „Nec aspera terrent“ – Auch Widrigkeiten schrecken (uns/mich) nicht. Das ist natürlich ein passender Spruch für Löwen, es ist übrigens auch das Motto der Minentaucher der Bundeswehr. Der Nachfolgestaat des Herzogtums, das Königreich Hannover, hat einen der Löwen durch ein Fabeltier, nämlich ein silbernes Einhorn ersetzt; auch das Motto wurde geändert. Tatsächlich schrecken heutzutage Widrigkeiten viele durchaus. Selbst ein falsches Wort oder ein falscher Blick, die unerträglich scheinen, rufen die Dementoren der Political Correctness, entsandt vom „Wokismus-Ministerium“, auf den Plan.
Und nun gibt es Krieg. Wirklichen, wahrhaftigen Krieg. Das ist mehr als eine Widrigkeit, die schreckt. Sie erschreckt manche so sehr, dass sie sich aus Sicht der Löwen wie Kinder unter der Bettdecke verstecken möchten, damit sie der Bösewicht nicht findet. Als Stimme des Einhorns könnte man den Offenen Brief von Intellektuellen und Künstlern an den Bundeskanzler, veröffentlicht in der Zeitschrift „Emma“, bewerten.
Deren Einwände gegen die Lieferung schwerer Waffen kann man aber auch rational prüfen. Die Lage ist viel zu ernst, als dass eine Prüfung unterschiedlicher Standpunkte nicht sachlich erfolgen müsste. Was also sind die Argumente?
Völkerrecht ist maßgeblich
Der Offene Brief beginnt mit dem Lob der Besonnenheit des Kanzlers, es folgt die Bewertung der russischen Aggression als Verletzung der Grundnorm des Völkerrechts.
Des Weiteren wird eine „prinzipielle moralisch-politische Pflicht“ postuliert, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Bereits an diesem Punkt kann man einhaken: Worauf basiert eine solche behauptete „prinzipielle moralisch-politische Pflicht“? Zweifellos hat jeder Mensch und auch jeder Staat das Recht, sich selbst zu verteidigen. Das hat weniger mit Moral oder Politik zu tun, als mit dem Selbsterhaltungstrieb. Jeder darf um sein Leben kämpfen. Dieses Recht gilt auch nicht nur grundsätzlich („prinzipiell“), sondern ausnahmslos. Deshalb gibt es kein „aber“. Bereits mit dieser Formulierung, das sogenannte Radio-Eriwan-Konstrukt des „Ja, aber…“, erfolgt die entscheidende, falsche Weichenstellung.
Die Verfasser behaupten, das Recht auf Selbstverteidigung („was sich daraus ableiten lässt“) habe Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik, deren „Grenzlinien“ sie im Folgenden selbst definieren:
Es sei kategorisch verboten, das Risiko einer Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung „großer Mengen schwerer Waffen“ könne Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Das Maß „an Zerstörung und menschlichem Leid“ (in dieser Reihenfolge) sei die weitere Grenzlinie, die selbst einen berechtigten Widerstand unverhältnismäßig („unerträgliches Missverhältnis“) mache.
Welches Verhalten ethisch korrekt oder sogar geboten ist, bestimmen jedoch nicht Einzelne. Vielmehr gelten insoweit allgemein verbindliche Regeln, in diesem Fall ist speziell das Völkerrecht maßgeblich.
Danach sind die Thesen der Verfasser schlicht falsch.
Kriegspartei ist derjenige, der aktiv in Kämpfe eingreift
Waffenlieferungen machen einen Staat nicht zur Kriegspartei. Gleichgültig ist es dabei, um welche Art von Waffen es sich handelt. Diese Differenzierung wird lediglich im deutschen Raum gemacht, ist aber weder von rechtlicher noch praktischer Relevanz.
Prof. Dr. Stefan Talmon, Direktor am Institut für Völkerrecht der Universität Bonn und Supernumerary Fellow des St. Anne’s College, Oxford, hat in einem auch für juristische Laien lesenswerten Beitrag die Entwicklung des Völkerrechts zu diesem Themenkomplex dargestellt. Gerade der 2. Weltkrieg illustriert die Weiterentwicklung des Rechts und zeigt, dass Waffenlieferungen (damals der USA an Großbritannien) den waffenliefernden Staat nicht zur Kriegspartei machen. Er führt weiter aus:
„Die eindeutige Identifizierung des Aggressors schließt die Anwendung des Neutralitätsrechts mit seiner Pflicht zur Unparteilichkeit aus. Diese Pflicht dürfte in der Mehrzahl der Fälle ohnehin nur den Aggressor begünstigen. Die Nichtanwendung des Neutralitätsrechts hat für die nicht am Krieg beteiligten Staaten keinerlei Nachteile….
Waffenlieferungen an den angegriffenen Staat können mangels Völkerrechtsverstoßes deshalb kein Grund für Gegenmaßnahmen und schon gar kein Grund für gewaltsame Repressalien des Aggressors gegen den waffenliefernden Staat sein. Letzteren würde ohnehin das Gewaltverbot der VN-Charta entgegenstehen. Gewaltmaßnahmen sind grundsätzlich nur als Reaktion auf einen bewaffneten Angriff zulässig. Waffenlieferungen als solche stellen aber keinen solchen Angriff dar. …
Angesichts der offensichtlichen russischen Aggression gegen die Ukraine käme jede Berufung auf das klassische Neutralitätsrecht und die damit verbundene Gleichbehandlung der Kriegsparteien einer rechtlichen und moralischen Bankrotterklärung gleich….Waffenlieferungen an den rechtswidrig angegriffenen Staat sind somit das Mindeste was Deutschland und andere Staaten angesichts der Untätigkeit des Sicherheitsrats zur Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und zur Verteidigung der Völkerrechtsordnung tun können. Das Völkerrecht verdammt die Staaten nicht dazu, der Aggression tatenlos zuzusehen; ganz im Gegenteil: Ein wertebasiertes Völkerrecht, das Gewaltanwendung in den zwischenstaatlichen Beziehungen verbietet und den Tatbestand der Aggression völkerstrafrechtlich sanktioniert, fordert geradezu eine Unterstützung des Aggressionsopfers.“
Kriegspartei ist lediglich derjenige, der aktiv in Kämpfe eingreift. Dies bedeutet übrigens, dass die NATO auch dann nicht Kriegspartei wäre, wenn sie auf Wunsch der Ukraine auf deren Boden außerhalb des eigentlich Kriegsgebietes Truppen stationieren würde, um eine Ausbreitung des Krieges zu verhindern.
Das Maß für Verteidigung
Die zweite Grenzlinie des Offenen Briefes, also die Unverhältnismäßigkeit der Notwehrmaßnahmen, stellt die Rechtslage auf den Kopf. Das Notwehrrecht, gleichgültig ob Person oder Staat, darf nicht im Übermaß erfolgen, d. h. ein gegenwärtiger Angriff darf nur mit den nötigen Mitteln abgewehrt werden. Wieviel Leid und Schmerz der Angegriffene bei seiner Verteidigung selbst in Kauf zu nehmen bereit ist, obliegt alleine seiner Entscheidung, es gibt keine (von wem auch immer) vorgegebene „Grenzlinie“. Der deutsche Hang, andere zu bevormunden, findet weder in der Ethik noch im Recht eine Stütze.
Eine solche „Grenzlinie“ wäre zudem enorm gefährlich und menschenverachtend, denn wenn das Maß, inwieweit man sich verteidigen darf, von der Brutalität des Angriffs abhinge, sich das Opfer also bei einem maximal brutalen Angriff nicht verteidigen dürfte, dann müssten Angriffe möglichst brutal sein, um zum schnellen Erfolg zu führen. Statt brutale Angriffe zu verhindern und zu unterbinden, führte diese Einstellung zur Eskalation der Gewalt, möglichst viele grausame Kriegsverbrechen wären zielführend. Dann – und nur dann – machen auch nukleare Optionen Sinn. Damit widerspricht diese Ansicht nicht nur der objektiven Rechtslage, sie ist zudem gemeingefährlich.
Die ethisch-moralischen Grundsätze, auf die sich die Verfasser berufen sowie die darauf beruhenden Rechtsnormen besagen also das komplette Gegenteil von dem, was die Verfasser behaupten.
Putins Rechtsverständnis ist Willkür
Im Übrigen ist es gewagt zu unterstellen, Putin würde dem Rat von Völkerrechtlern basierend auf ethischen Erwägungen folgen. Ein Mann, der einen Krieg ohne jeden Grund beginnt, unter dessen Führung Kriegsverbrechen nicht nur als unerwünschte Begleiterscheinung vorkommen, sondern gezielt als Mittel der Kriegsführung eingesetzt werden und dessen Krieg durchaus als Völkermord bewertet werden kann, dürfte sich von den Feinheiten des Rechts und der Moral wohl kaum beeinflussen lassen.
Auf Putins Völkerrechtsverständnis bauen, bedeutet auf Sand bauen. Er allein interpretiert, was im Sinne des Völkerrechts oder dem entgegensteht. Putins Rechtsverständnis ist Willkür. Seine gesamte „Lebensleistung“ als KGB-Mann und Kreml-Chef zeigt das eindrücklich. Ob sein Zynismus beim Untergang der „Kursk“, im Tschetschenien-Krieg, in den Gaspreiserpressungen der Ukraine seit der „Orangenen Revolution“ 2004, dem Georgien-Krieg/Ossetien 2008, der Gewalt auf dem Maidan und dem russischen Einmarsch in die Ostukraine samt der Krim-Annexion 2014 bis zum wehrmachtsähnlichen Überfall auf die Ukraine 2022 – die Liste der Abscheulichkeiten ist lang und steht an keiner Stelle im Einklang mit dem Völkerrecht. Deshalb macht es auch keinen Sinn, ängstlich kreml-astrologisch auf Putin und dessen Urteil, ob wir Kriegspartei oder nicht Kriegspartei sein könnten, zu achten. Darauf haben wir Null Einfluss. Wir, der freie Westen, müssen gegen alles gewappnet sein, genau das muss Putin auch wissen. Er möge seine Truppen zurückziehen hinter die Grenzen des „Budapester Memorandums“ von 1994 und es herrscht sofort Frieden. Eine klare Logik.
Es könnte sein, dass die Verfasser des Briefes die Lieferung „schwerer“ Waffen deshalb ablehnen, weil deren Einsatz den russischen Erfolg ernsthaft gefährden und daher Putin verärgern könnten, weshalb er sich dann möglicherweise rächen wird. Warum er sich ausgerechnet an Deutschland rächen sollte und nicht an den Staaten, die mehr Waffen liefern, bleibt insoweit offen. In Betracht käme der Aspekt, dass aus seiner Sicht in Deutschland der Effekt am größten wäre, weil es besonders viele leicht zu verängstigende Menschen gibt. Wenn aber die Angst vor der Rache Putins der Grund für die Ablehnung von Waffenlieferungen ist, reduziert sich die Abwägung auf die Überlegung „Besser die als ich“. Das würde bedeuten, dass man Menschenopfer hinnimmt, um nicht selbst in Gefahr zu geraten. Dieses archaische Modell der Menschenopfer auf dem Altar eines als böse und rachsüchtig angesehenen Gottes oder Herrschers sollte eigentlich obsolet sein, jedenfalls aber wird es als moralisch höchst fragwürdig angesehen.
Für den Umstand, dass die Gefährdung der eigenen Komfortzone tatsächlich maßgebend für die Weigerung ist, die Ukraine mit schweren Waffen zu versorgen, sprechen die häufig gehörte Abwertung der Ukraine als wenig mustergültige Demokratie und die persönlichen Angriffe auf Selenskyj etc.. Es fällt schwer, Menschenopfer vor sich und anderen zu rechtfertigen, die Abwertung der Menschen, die geopfert werden, macht es leichter – eine altbekannte Methode. Auch der oft gehörte Satz, Deutschland könne sich nicht verteidigen, müsse sich also heraushalten, spricht dafür, dass es in Wirklichkeit nicht um Moral, sondern um Flucht vor Widrigkeiten geht. Tatsächlich kann sich Deutschland alleine kaum verteidigen, daher ist es auch so unverantwortlich, dass z. B. die Luftwaffe nicht so schnell wie möglich auf Vordermann gebracht wird, sondern Flugzeuge angeschafft werden sollen, die erst in 10-15 Jahren vorhanden sein werden. Auch die Verteidigung gegen Raketenangriffe müsste sofort verstärkt werden, wozu zwar nicht der Iron Dome geeignet ist, aber durchaus Arrow 3. Entscheidend ist aber, dass Deutschland Teil der NATO ist, d. h. sich alleine gar nicht verteidigen muss. Auch insoweit wird eine Phantomdebatte geführt. Die Angst Putins vor einem Eingreifen der NATO in der Ukraine zeigt, dass ihm wohl bewusst ist, dass Russland gegen diese keine Chance hat. Die NATO könnte den Krieg in der Ukraine schnell beenden.
Isoliert Deutschland sich, steht zu befürchten, dass die Solidarität der Partner sich daran orientieren könnte. Damit wird Deutschland nicht sicherer, im Gegenteil.
Alice Schwarzer und die anderen Brief-Schreiber bekommen es im Moment auch mit ihren eigenen früheren Argumentationslinien zu tun. Ein schönes Fundstück auf Facebook: „Was geht die Ukraine auch alleine und im kurzen Rock nachts auf die Strasse! Schöne Grüße, eure #Emma“
Eine Frage an die Brief-Schreiber steht noch im Raum. Wenn Euch Eure Sympathien für die verblichene Sowjetunion so wichtig sind, warum vergeudet Ihr Eure Liebe an den frei nach Lenin „parasitären oder faulenden Kapitalismus“ des sowjetischen Nachfolgestaates Russland und warum nicht an den sowjetischen Nachfolgestaat Ukraine, der sich mühsam und gegen viele Widerstände aus Sowjetzeiten in Richtung Demokratie und Rechtsstaat aufmachte? Seid Ihr doch nicht für den Fortschritt unserer Zivilisation? Das müsst Ihr erklären!
Die von Künstlern und Intellektuellen in ihrem Offenen Brief geäußerten Thesen stehen mithin im krassen Widerspruch zur Ethik und zum Recht; ihre Forderungen gefährden den Frieden in der Welt und machen diese barbarischer. „Nec asperea terrent“ wäre sicherer.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Annette Heinisch. Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank- und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig.
Gunter Weißgerber war Montagsdemonstrant in Leipzig, Mit-Gründer der Ost-SPD und saß dann 19 Jahre für die SPD als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 2019 trat er aus der Partei aus. Der gelernte Bergbauingenieur ist heute Publizist und Herausgeber von GlobKult. Im Internet zu finden ist er unter www.weissgerber-freiheit.de.
Bild: Damian Pankowiec/ShutterstokText: Gast