Wie unsere Gesellschaft desintegriert Wo Verfassungen der Politik Grenzen setzen sollen, wird ins Übernationale ausgewichen

Von Sönke Paulsen

Ein intaktes Gemeinwesen haben wir nicht mehr, was sogar der FDP-Chef, relativ unwidersprochen auf Twitter und in Interviews sagen kann. Christian Lindner meint damit vor allem eine überbordende Bürokratie und eine gefesselte Politik nach wirtschaftsliberalen Maßstäben.

Aber die Desintegration unserer Gesellschaft hat weit mehr Facetten.

Wir leben in einer Welt, in der das erste Mal politische Zensur an Internetkonzerne „outgesourct“ wurde, die sich in der Grauzone der eigenen Netiquette mit Begriffen wie „schädliches Netzwerk“ und „koordinierte Schädigung der Gesellschaft“ an Andersdenkenden zu schaffen machen und deren Kanäle löschen. So geschehen mit Facebook und Querdenken 711 und bei Google und der Tochter Youtube.

Die Geschädigten müssen sich nun zivilrechtlich gegen die Zensur wehren und die Bundesregierung ist ihre schärfsten Kritiker in der Corona-Pandemie erst einmal los.

Neuordnung oder Zerstörung der Demokratie?

Warum das ein Zeichen von Desintegration ist?

Die Politik überlässt die Kriterien für die Einschränkung der Meinungsfreiheit den Konzernen. Der Staat verabschiedet sich also aus der Verantwortung für Meinungsfreiheit und Pressefreiheit und delegiert sie notfalls in die USA oder nach Irland, wo Google seinen europäischen Hauptsitz hat.

Man könnte auch sagen, die Regierung löst den Staat scheibchenweise auf und trifft damit ihre Kritiker doppelt. Durch die verordnete Zensur der Konzerne und durch die Auflösung des Staates an der Stelle, an welcher ihre Kritiker sie am schärfsten angreifen.

Die Zensur wird in übernationale, wirtschaftliche Zusammenhänge verlagert und damit der demokratischen Kontrolle entzogen.

Ein Trick, der es in sich hat! Denn auch die Bundesregierung entzieht sich damit der Kritik. Übrig bleibt ein sinnentleerter Staat.

Brüssel als Präzedenzfall

Das Muster der staatlichen Zersetzung von oben ist bereits aus den letzten Jahrzehnten der Auslagerung von Gesetzen nach Brüssel bekannt. Übernationale Verordnungen der EU treffen die Bürger der Mitgliedsstaaten sehr viel unvorbereiteter, führen zu weniger öffentlichen Debatten in den Ländern und werden mit dem Verzögerungsfaktor der Umsetzung in den einzelnen Mitgliedsstaaten verwässert. Aber umgesetzt werden müssen die meisten Verordnungen der EU. Allerdings zu einem Zeitpunkt, an dem es zu spät ist, darüber zu diskutieren. So wurden auch die großen Freihandelsabkommen durchgesetzt. Ein schleichender Prozess außerhalb der demokratischen Kontrolle, der mit breiten Protesten gegen das TTIP-Abkommen zumindest teilweise und vorübergehend gestoppt wurde.

Es ist aber genau die Taktik, die von der Bundesregierung verfolgt wurde, um die Bevölkerung Deutschlands von ihrem Recht auf demokratische Kontrolle weitgehend abzuhalten.

Viele Lobbys und zivilgesellschaftliche Organisationen haben ihre Chance ergriffen und ohne jede demokratische Kontrolle ihre Anliegen durch die Brüsseler Hintertür im eigenen Land durchgebracht, auch wenn es dafür dort keine Mehrheiten gab. Die deutschen Grünen liefern hier das Paradebeispiel. Sie liegen aktuell im Bereich von 15 %, wenn man die Wahlumfragen anschaut, und haben ihre Klimaverordnungen fast vollständig über Brüssel in unserem Land durchgesetzt.

Was will man noch mehr sagen zu gesellschaftlicher Desintegration, wenn man ständig dieses Aushebeln der Souveräne der einzelnen Demokratien, über Bande, miterlebt.

Ein regelrechter demokratischer Aushöhlungsprozess auf überstaatlicher und gesellschaftlicher Ebene.

Eurokrise als Blaupause für Demokratieabbau

Es ist kein Geheimnis, dass die Eurokrise nicht von einer demokratisch gewählten Regierung, schon gar nicht von der Bundesregierung, sondern von der Europäischen Zentralbank und ihrem Chef, einem Netzwerker von Goldman-Sachs, gelöst wurde. Die Entwertung der Sparvermögen durch eine brutale Verbilligung des Geldes und Ankauf von maroden Staatsanleihen war die Antwort, auf die kein Volk innerhalb der EU nur den geringsten Einfluss hatte.

Diese Entwertungsspirale geht weiter und wird eskaliert. Die Abschaffung des Bargeldes verschleiert diesen Prozess und macht die Sparer wehrlos gegenüber der Geldpolitik der EZB.

Der Bundesbankpräsident  Weidmann kommentierte diese Geldpolitik damals so: „Der Vorschlag Montis läuft auf eine durch die EU-Verträge verbotene Staatsfinanzierung durch die Notenpresse hinaus.“

Da, wo Verfassungen der Politik Grenzen setzen sollen und die Selbstbestimmungsrechte der Staaten und ihrer Bürger garantieren, wird ins Übernationale ausgewichen und oft genug auch die Justiz manipuliert.

Das Bundesverfassungsgericht sah im Rahmen der Auseinandersetzung um die EZB-Politik den Europäischen Gerichtshof kritisch, stellte seine politischen Abhängigkeiten dar. Inzwischen ist auch das Bundesverfassungsgericht in eine tiefe politische Abhängigkeit geraten.

So wird Politik zu einem freien Spiel der Kräfte, welches wir derzeit bei uns beobachten, ohne Regeln. So konnte durch massive politische Lobbyarbeit von NGOs und Regierung erreicht werden, dass sogar unser Verfassungsgericht das Grundgesetz missachtete und einen „Klimanotstand“, der wissenschaftlich umstritten ist, als Gegenspieler unserer Grundrechte gleichsam ins Grundgesetz geschrieben hat. Das ist politische Manipulation über alle staatlichen Bereiche hinweg, ein Spiel ohne Grenzen, bei dem sich unsere Gesellschaft immer mehr von ihren Regeln entfernt und dabei auflöst.

Bei diesem Spiel bilden sich auch Gräben in der Gesellschaft, die täglich schwerer zu überwinden sind. Die Bevölkerung fühlt sich nicht mehr als Teil eines Ganzen, sondern bestenfalls als Teil einer gesellschaftlichen Gruppe, die zunehmend schärfer gegen andere Gruppen vorgeht.
Auflösung eben.

Zur Verschleierung dieser Politik werden Staatsfeinde konstruiert, die die Institutionen angeblich delegitimieren und die Gesellschaft schädigen wollen. Das sind dann vor allem die Kritiker dieser „Staatszersetzung von oben“, die meist aus dem konservativen Bereich der Gesellschaft kommen, aber nicht immer, wie man an der Querdenker-Bewegung sehen kann.

Subsumiert wird diese inszenierte Verfeindung der Gesellschaft von oben unter Begriffen wie „Kampf gegen rechts“ oder „Kampf gegen Rassismus“ und „wehrhafte Demokratie“.

Das Gegenteil ist der Fall. Die Demokratie, die vom respektvollen Umgang der Kontrahenten lebt, wird mit den beschriebenen Methoden ausgehöhlt und wehrlos.

Mentale Faktoren wirken destruktiv

Es gibt allerdings noch einen mentalen Faktor, der in der Politik weitverbreitet ist und massiv zur gesellschaftlichen Desintegration beiträgt: Statt Wirklichkeit und Realitätssinn wird Zukunft gepredigt, die ideologisch stark eingefärbt ist. Derzeit zu beobachten im Bundestagswahlkampf. Fast alle Parteien beteiligen sich daran.

Reale Probleme wie dysfunktionale Behörden, kaputte Schulen, fehlender Wohnraum und eine marode Infrastruktur werden dabei mit Zukunftsformeln zugedeckt, die kaum greifbar sind.

Dysfunktionale Behörden, die einfachste Probleme wie das Meldewesen nicht mehr in den Griff bekommen, werden dann als Fall für die Digitalisierung dargestellt. Kaputte Schulen weisen, in politischen Äußerungen fast aller Parteien, darauf hin, dass wir ein einheitliches Bildungssystem brauchen und mehr Digitalisierung des Unterrichtes, fehlender Wohnraum weist zumindest für die linken Parteien auf die Notwendigkeit staatlicher Daseinsvorsorge hin und die marode Infrastruktur auf die, in Angriff zu nehmende, Mobilitäts- und Energiewende. Ideologische Formeln, die bestenfalls zu Leuchtturmprojekten führen, aber nicht zu einer flächendeckenden Sanierung unserer gesellschaftlichen Grundsubstanz, ob Schulen oder Behörden, Wohnraum oder Energiesystem.

Auf diese Weise wird nach Gesinnung regiert und reagiert, aber nicht nach Verantwortung.

Es kann durchaus sein, dass über die Dominanz der virtuellen Welt die reale Welt in der Politik vergessen wird. Aber es kann auch sein, dass der digitale Raum, in dem unsere Gesellschaft sich zunehmend aufhält, den Blick auf die Wirklichkeit einfach uninteressant macht. Weil Wahlen zunehmend digital gewonnen werden, Wahlkämpfe digital stattfinden, mit Werten herumgeworfen wird, die reine Ideologie sind und keinen einzigen Stein auf den anderen fügen.

Ein Problem nicht nur der Politik, sondern der Gesellschaft insgesamt.

Eine Besinnung auf das, was uns umgibt und wie es unter unseren Augen zerfällt, ist dringend erforderlich. Fortschritt ist notwendig.
Aber realer Fortschritt ist nur möglich, wenn er nicht mit Verfall und Vernachlässigung seiner Grundlagen erkauft wird. Wer nur in die Zukunft schaut, hat bald ein Haus mit smarter Einrichtung, aber mit kaputtem Dach.

Am Ende führt diese Entwicklung zum Überdruss am eigenen Land, zur Loslösung aus der Gemeinschaft und zur Flucht in eine Welt von morgen, die nicht viel mehr ist, als eine kaputte Welt von gestern.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.

Bild: Shutterstock
Text: Gast

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