Von Alice Leistikow
Nachdem ich mich in den letzten Tagen davon erholt habe, einen Kanzler zu haben, für den es „keine roten Linien“ mehr gibt, ein Bundesverfassungsgericht, für das es keine garantierten Grundrechte mehr gibt, und Mitbürger, für die es kein Maß mehr gibt, habe ich mir endlich die Pressekonferenz zum Koalitionsvertrag angeschaut. Dabei sind ein paar Worte von Robert Habeck gefallen, denen in dieser turbulenten Woche aus meiner Sicht bisher nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Sie sind der Grund, warum diese Regierung auf mich nicht zählen kann. Aber vielleicht – hoffentlich – habe ich auch nur was falsch verstanden.
Impfen für eine freie Gesellschaft
Zunächst sagte Robert Habeck: „Das Impfen ist der Weg (…) zu einer offenen, freien Gesellschaft mit möglichst wenig Einschränkungen.“ Deswegen müsse „Politik für das Land und die Freiheit“ die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Zusatz: „Und das werden wir auch tun.“ Interessant ist an diesem Satz, dass es überhaupt nicht mehr um Gesundheitsfragen geht, sondern immer nur darum, ob wir – durch das Impfen – wie von Zauberhand wieder eine Gesellschaft mit „möglichst wenig Einschränkungen“ werden können. Denn sonst könnte man ja durchaus fragen: Würde das nicht eventuell auch mit mehr Krankenhausbetten, besserer Behandlung, detaillierteren Analysen, weniger Panikmache und mehr Schwarmintelligenz gelingen können? Nein. Es kann nur durch Impfen gelingen. Warum, das bleibt Habecks Geheimnis, so, wie es zuvor Merkels Geheimnis war.
Man muss aber angesichts dieser „Alternativlosigkeiten“ wirklich kein Verschwörungstheoretiker sein, um sich zu fragen, ob es nicht vielleicht doch jemanden gibt, der jeden Politiker kurz vor Amtsantritt besucht, um ihn mit sanfter Stimme zu erinnern: „Impfen ist alternativlos, alles klar?“ Dabei schaut der Politiker dann vielleicht in den Lauf einer Pistole und nickt. Anders kann ich mir die gebetsmühlenartige Verbreitung einer derart unterkomplexen Gleichung wie „Impfen = Freiheit“ nicht mehr erklären.
Aber es wird noch besser, als die Sprache auf den problematischen, impfunwilligen Teil der Bevölkerung kommt. Was ist mit denen? Robert Habeck erklärt sich die Impf-Unwilligkeit eines Teils der Bevölkerung mit „unterschiedlichen Gründen“. Einer davon sei „vielleicht nur die sprachliche Barriere, nicht erreicht worden zu sein, nicht informiert zu sein.“ – …Echt jetzt? Wenn ich mir jemanden in Deutschland vorstellen soll, der die „Impfaufforderung“ der Regierung trotz Impfkampagnen-Dauerbeschuss, Lockdowns, Testzwang, Jobverlust, Einkaufsverboten, Besuchsverboten, beschränktem Zugang zu Ärzten, sozialer Ächtung und Ausgrenzung in fast jedem Lebensbereich noch nicht mitbekommen hat, dann denke ich an eine Topfpflanze.
Berechtigte Sorgen zu akzeptieren…
Aber Habeck hat sich auch über die übrigen Ungeimpften noch seine Gedanken gemacht. Die es also zwar längst mitbekommen haben, dass die Regierung sie impfen will, aber die „berechtigte Sorgen vor gesundheitlichen Nachwirkungen geben … haben“, stolpert sich Habeck durch den Satz. Das sei „alles hinzunehmen und zu akzeptieren beziehungsweise als ernstzunehmende Argumente zu gewichten“. – „Oha!“, ruft man da als gesundheitlich Besorgter wohl unweigerlich aus, weil ja doch in den letzten Monaten eher wenig „akzeptiert“ und schon gar nicht „gewichtet“ wurde, auch nicht bei „berechtigten Sorgen“ vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Immerhin tragen auch Asthmatiker oder lungengeschädigte Menschen wie meine Mutter „aus Solidarität“ seit zwei Jahren FFP2-Masken bis zur Ohnmacht und auch die bekannte Thromboseneigung meiner Tante beeindruckte die impfwütige Hausärztin bei der „Gewichtung“ des Impfrisikos nicht im Geringsten.
Doch so meinte es Habeck auch gar nicht, es folgt die Klarstellung: „Auf Dauer können sie nicht Bestand haben.“ Ja. Sie haben richtig gelesen. Thromboseneigungen, Vorerkrankungen und andere „berechtigte Sorgen“ vor „gesundheitlichen Nachwirkungen“, all diese Gründe sind „auf Dauer“ irrelevant. Und zwar, so Habeck, „weil wir – wie gesagt – eine freiheitliche, offene Form des Zusammenlebens nur wiederherstellen können, wenn wir uns in großer Zahl impfen lassen“. Damit ist gemeint: in größerer Zahl als bisher. Größer als bisher gefordert. Größer als jede „berechtigte Sorge“ verhindern könnte? Weil sie eben keinen Bestand haben kann, diese Sorge?
Ich hoffe ehrlich gesagt wirklich sehr, dass ich da etwas falsch verstanden habe. Denn so, wie es gesagt wurde, würde das ja nichts weniger bedeuten, als dass Robert Habeck möchte, dass wir als Gesellschaft das gesundheitliche Schicksal des Einzelnen angesichts der Impffolgen auch bei berechtigten Sorgen vor gesundheitlichen Nachteilen ignorieren. Und zwar weil diese berechtigten Interessen der von Robert Habeck avisierten rosigen Zukunft einer „freien, offenen Form des Zusammenlebens“ im Wege stehen. Mag bei dem einen auch die Herzmuskelentzündung Probleme bereiten, bei dem anderen die berechtigte Sorge vor einem Schlaganfall: Wenn nun einmal nur die Impfung den Weg in die verheißungsvolle Zukunft der Gesellschaft verspricht, die Habeck vorschwebt, dann hilft es ja alles nichts, dann muss auf lange Sicht wohl eben der eine oder andere über die Klinge springen. Und wenn die Betroffenen auch noch so krank oder „vulnerabel“ wären. Aber so, denke ich, kann es Herr Habeck doch eigentlich unmöglich gemeint haben.
Boris Reitschusters aktuelles Bundespressekonferenz-Video – diesmal exklusiv auf GETTR.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Die Autorin ist Journalistin und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: penofoto/ShutterstockText: Gast