Von Gregor Amelung
Bei dieser eingeschränkten Sichtweise kommt es ganz automatisch zu Schlagzeilen wie diesen: Die afghanische Armee wurde „überrannt“ und „Der Westen hat versagt“. Ähnlich weit weg von Geschichte und Realität positionieren sich viele Politiker. So erklärte etwa Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) im »Frühstart«-Interview beim Nachrichtensender ntv am 20. August: Die Evakuierung in Kabul sehe „‚verdammt nach Flucht aus. Es erinnert an die Bilder von Saigon.'“
Nun ist es durchaus zutreffend, dass das berühmte Pressefoto eines Hubschraubers, der auf einem Dach in Saigon Menschen an Bord nahm, den Bildern von der US-Botschaft in Kabul zum Verwechseln ähnlich sieht. Weshalb der Vergleich auch in der Bildzeitung und den sozialen Medien gezogen wurde. Die tausendfache Vervielfältigung macht allerdings daraus keinen Fakt.
Das Gebäude, auf dessen Dach der Hubschrauber am 29. April 1975 gelandet war, war nämlich nicht die amerikanische Botschaft in Saigon, sondern ein Mietshaus, das von Mitarbeitern von USAID (United States Agency for International Development) bewohnt und dessen Dach von der CIA genutzt wurde. Und der Hubschrauber selbst war kein Militärhubschrauber, sondern gehörte der zivilen Fluglinie »Air America«, die von der CIA in Südostasien benutzt wurde.
Operationen »New Life« und »Babylift«
Beide Details sind natürlich insofern unbedeutend, als dass das Foto ikonografisch für den Rückzug der USA aus Südostasien steht. Es mit der jetzt erfolgten Evakuierung in Kabul in Verbindung zu setzten, ist aus einem anderen Grund irreführend und verstellt den Blick auf die afghanische Realität.
Auf dem Höhepunkt des US-Engagements in Südvietnam im Januar 1969 waren dort mehr als eine halbe Million Soldaten stationiert. Diese Streitmacht wurde unter der damals gerade neuen US-Administration von Richard Nixon bis März 1973 abgezogen. Genauso wie die Truppenkontingente aus Süd-Korea, Australien, Neuseeland und Thailand.
Erst danach kam es zum Kollaps von Südvietnam und zum berühmten Foto auf dem Dach des Miethauses in der Gia Long Straße 22 in der Saigoner Innenstadt. Dabei zeigt das Foto lediglich einen winzigen Teil der amerikanischen Operation »Frequent Wind«, bei der zwischen dem 29. und 30. April 1975 rund 7.000 Personen ausgeflogen wurden. Darunter etwa 1.400 US-Amerikaner. Zuvor hatte man bereits 40.000 Amerikaner und Vietnamesen, zumeist Militär- und Regierungsangehörige, sowie 2.700 Waisenkinder in den Operationen »New Life« und »Babylift« evakuiert.
Zwei Jahre Widerstand und Zehntausende Gefallene
In der Summe wurden in der Endphase Südvietnams rund 130.000 Vietnamesen evakuiert. Die hochkomplexen Militäreinsätze hierfür im April 1975 waren allerdings keine »Flucht«, sondern politisch frühzeitig ins Auge gefasst, militärisch akribisch geplant und in der Summe extrem erfolgreich. Mit einer „Flucht“ im Sinne von Wolfgang Schäuble hatten sie reichlich wenig gemeinsam. Die eigentliche „Flucht“, wenn man es so will, der Amerikaner aus Vietnam war nämlich bereits im März 1973 abgeschlossen gewesen.
Anschließend leistete die südvietnamesische Armee dem kommunistischen Norden und der mit ihm verbündeten Guerilla Vietcong noch bis zum Frühjahr 1975 teils erbitterten Widerstand. Zwei Jahre lang. Erst danach fiel Südvietnams Hauptstadt Saigon und wurde in der Folge in Ho-Chi-Minh-Stadt umgetauft.
»Vietnam in Warp-Geschwindigkeit«
46 Jahre später zogen sich die NATO-geführten Truppen aus Afghanistan zurück. Zum 30. Juni hatten Italiener, Polen und die deutsche Bundeswehr das Land verlassen. Bereits am 16. August zeigten Fotos siegreiche Taliban-Kämpfer im Präsidentenpalast von Kabul.
Dafür hatten die »Gotteskrieger«, gemessen an der Übergabe der US-Airbase Bagram am 2. Juli 2021, allerdings nicht zwei Jahre gebraucht, sondern lediglich 45 Tage. Angesichts des rasend schnellen Vormarschs sprach der US-Journalist Jim Laurie, der noch selbst über die Endphase des Vietnamkriegs berichtet hatte, von einem »Vietnam in Warp-Geschwindigkeit«.
Dabei misst das ehemalige Südvietnam (174.000 km²) nur knapp ein Viertel des afghanischen Staatsgebietes (653.000 km²). Und sowohl die südvietnamesische Armee 1973 bis 1975 als auch die afghanische Armee 2021 kontrollierten zum Zeitpunkt des Abzugs ihrer Verbündeten nur einen Teil ihres Territoriums. In den beiden Fällen erstreckte sich die Kontrolle der Regierung eher auf die Städte und größeren Ortschaften sowie die sie verbindenden Straßen. Je weiter man in die ländliche Fläche ging, desto geringer war die Macht der Regierungstruppen. 1973 bis 1975 genauso wie 2021.
»Afghanisierung« des Konflikts
Dem endgültigen Rückzug der von der NATO geführten Truppen in Afghanistan war bereits zuvor in den Jahren 2012 bis 2014 eine massive Truppenreduktion vorausgegangen. Gemessen an der Größenordnung muss man diese Phase eigentlich als den entscheidenden Beginn des Rückzugs begreifen. Zuvor recht große Truppensteller wie Spanien, Tschechien oder Polen reduzierten ihre Kontingente um etwa 90 Prozent. Deutschlands Nachbar Frankreich hatte seine Truppen sogar bereits Ende 2012 nahezu komplett abgezogen.
Grund hierfür war ein Strategiewechsel im Oktober 2010. Der Fokus lag nun nicht mehr auf dem sogenannten »Krieg gegen den Terror«, sondern auf der Aufstellung von afghanischen Sicherheitskräften und einer Armee, die es den Alliierten mittel- und langfristig erlauben sollte, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. In Südvietnam war ab 1969 etwas ganz Ähnliches geschehen, das man damals die „Vietnamisierung“ des Konflikts genannt hatte.
Statt »Nation Building« »Army Building«
In der Folge wurde die ISAF-Mission (International Security Assistance Force), die auf einer Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 20. Dezember 2001 beruht hatte, aber keine friedenssichernde Blauhelm-Mission gewesen war, eine den Frieden erzwingende Mission, 2014 beendet. Beendet, ohne dass der Frieden in Afghanistan flächendeckend durchgesetzt worden war und die afghanische Regierung die volle Kontrolle über das Land hatte.
Die ebenfalls NATO-geführte Nachfolge-Mission »Resolute Support / Entschlossene Unterstützung« diente nun der Ausbildung und Beratung sowie Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte. Während der Mission, die formal am 16. Juli 2021 ausgelaufen ist, kam es zu einer weiteren Reduktion der Truppenstärke von zuvor 34.500 Mann auf 9.600 im Februar 2021, also um 72 Prozent. Verkürzt könnte man auch sagen, der Westen reduzierte seine Ansprüche am Hindukusch von einer ambitionierten „Verteidigung der Demokratie“ mit gleichzeitigem „Nation Building“ auf ein simples „Army Building“.
»Schlagkräftige Luftwaffe« laut Tagesschau.de
Über die tatsächliche Stärke der afghanischen Streitkräfte gibt es unterschiedliche Angaben. US-Präsident Joe Biden sprach am 7. Juli 2021 von »nahezu 300.000« Soldaten, „genauso gut ausgerüstet wie jede andere Armee auf der Welt“, und „einer Luftwaffe“.
Danach bemühten sich einige US-Medien, die phantastische Zahl von 300.000 Militärs dahin gehend einzuordnen, dass hier alle Sicherheitskräfte und damit eben auch die Polizei gemeint gewesen wären. Weniger Mühe machte man, sich die von Biden angesprochene Luftwaffe unter die Lupe zu nehmen, noch am 17. August hieß es zu ihr auf Tageschau.de, dass sie „schlagkräftig im Kampf gegen die Taliban“ sei.
Dabei fußte ihre »Schlagkraft« eigentlich nur auf 30 für den Erdkampf ausgelegte Propellermaschinen, ein paar schwere Kampfhubschrauber aus Sowjetzeiten und eine Reihe leichtere, die auch als Trainingsmaschinen eingesetzt werden können. Der Rest der afghanischen „Luftwaffe“ bestand aus Transport- und Schulflugzeugen.
Bildung und Analphabetismus
Zum Vergleich: Die südvietnamesische Luftwaffe ging aus einer langjährigen Entwicklung hervor, die bereits während der französischen Kolonialzeit im Jahr 1949 begonnen hatte. Aus diesem personellen Kern wuchs dann die Luftwaffe Südvietnams kontinuierlich an. Auf ihrem Höhepunkt 1974 war die Luftwaffe der Republik Vietnam (RVNAF) nominell die sechstgrößte der Welt und ihre Piloten flogen auch moderne US-Kampfjets vom Typ F-5.
Rein von ihrem Gründungsjahr 1919 her gesehen ist die afghanische Luftwaffe selbstverständlich wesentlich älter, aber sie erlebte nie einen kontinuierlichen Aufbau und verlor ihr in den 1980er Jahren aufgebautes Know-how spätestens nach dem Sieg der Mudschaheddin im Jahre 1992 nahezu vollständig. Ein Teil der Schwierigkeiten bei ihrem Aufbau war auch dem niedrigen Bildungsniveau der afghanischen Bevölkerung geschuldet, denn für die komplexe Technik braucht man eben nicht nur Piloten in der Luft, sondern auch Techniker zur Wartung am Boden. Und während die Analphabetenquote im ehemaligen Südvietnam weniger als 25 Prozent betragen hatte, liegt sie in Afghanistan noch heute bei rund 62 Prozent (Stand 2017, 2019).
Eine Jahrhundert-Aufgabe
Ein Problem, das nahezu völlig unter dem Radar von Medien und Öffentlichkeit dahinvegetiert. Höchstens wenn es um Bildung als Teilaspekt der „Frauenrechte“ geht, widmet man sich diesem Thema, obwohl es eigentlich für jede gesellschaftliche Entwicklung von zentraler Bedeutung ist. Es zu überwinden braucht Generationen und auf politischer Ebene einen entschlossenen Willen, denn Analphabetismus ist oftmals verzahnt mit der Hoheit religiöser Institutionen über die Bildungseinrichtungen.
In Deutschland waren beispielsweise zu Beginn des 19. Jahrhunderts die meist kirchlich organisierten Schulen auf dem Lande nicht wirklich an Bildung interessiert. Lesen und Schreiben wurde mit dem Katechismus gelehrt. Danach waren viele Kinder gerade mal in der Lage, ihren eigenen Namen zu schreiben. Kein Wunder also, dass die Analphabetenquote in Deutschland um 1800 bei über 80 Prozent lag. Danach erst setzte vor allem die preußische Verwaltung eine staatliche Aufsicht – oftmals gegen starken religiösen Widerstand – durch. Etwa 90 Jahre später war der Analphabetismus in Deutschland nahezu besiegt.
Am 1. Weihnachtsfeiertag 1979, der lediglich von einer winzigen Minderheit von etwa 200 Katholiken in Afghanistan begannen wird, waren die Sowjets in dem Land einmarschiert.
»Tod den Amerikanern!«
Auf dem Höhepunkt des Moskauer Engagements standen dort mit 115.000 Soldaten etwa genauso viele wie zur Hochzeit der ISAF, die 2012 rund 130.000 Soldaten in Afghanistan stationiert hatte. Nach schweren Verlusten und einem zermürbenden Kleinkrieg mit den Mudschaheddin zog sich die sowjetische Armee zu Beginn des Jahres 1989 zurück. Dabei war der Sieg der Mudschaheddin, die vom Westen und von Saudi-Arabien unterstützt wurden, nur vordergründig auch ein Sieg des Westens, wie eine Anekdote von Peter Scholl-Latour veranschaulicht.
Über den Kampf der Mudschaheddin berichtet der 2. Teil.
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Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
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Text: Gast
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