Von Alexander Wallasch
Ist das schon Panik oder nur eine große Beunruhigung? Jedenfalls ruft eine 85-jährige Frau aufgeregt an und sendet uns parallel ein Foto eines Ausschnitts aus ihrer Braunschweiger Zeitung.
Was die ältere Dame so irritiert hat, ist eine Anzeige des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) mit dem Titel:
„Das Bundesamt empfiehlt folgende Vorratshaltung für Katastrophenfälle“.
Die alte Dame bittet per Telefon darum, noch schnell Einkäufe für sie zu erledigen, „bevor die Geschäfte leer sind“. Der Termin der Anzeigenschaltung ist tatsächlich denkbar ungünstig gefallen: In der Nacht hatte Präsident Putin russische Truppen in die Ukraine einmarschieren lassen.
Die Anzeige fordert die Leser dazu auf, Vorräte anzulegen. Dazu werden konkrete Mengenangaben gemacht und bunte Zeichnungen der entsprechenden Lebensmittel mit abgebildet. Beispielsweise 4,0 kg Gemüse und Hülsenfrüchte, 3,5 kg Getreide, Getreideprodukte, Brot, Kartoffeln, Nudeln, Reis und 0,357 kg Fett und Öl.
Die mit konkreter Mengenangabe dargestellten Lebensmittel sollen beispielhaft gelten „für einen 10-tägigen Grundvorrat für eine Person“. Dieser entspreche ca. 2.200 kcal pro Tag und decke damit im Regelfall den Gesamtenergiebedarf ab, heißt es. Auch wird dazu aufgefordert, zwanzig Liter Getränke zu horten.
Wir rufen dazu bei der Pressestelle des Bundesamtes an. Zunächst erfahren wir, dass es sich hierbei um eine Jahreskampagne bezüglich Selbstschutzthemen handele, die im November 2021 gestartet sei. Die Selbstschutzkampagne würde nicht nur Umweltkatastrophen betreffen, sondern auch Stromausfälle, Stürme und alles, wo es nötig sei, längere Zeit zu Hause zu bleiben.
Hier muss man unweigerlich und ganz unabhängig von Putins Einmarsch in die Ukraine auch an die Einschränkungen der Pandemie-Maßnahmen denken. Der Begriff „Hamstern“ beispielsweise ist im Zusammenhang mit Panikkäufen von Klopapier längst aus der Kriegszeit zurück in das Bewusstsein der Deutschen zurückgekehrt.
Eine Sprecherin des Amtes erklärt, es sei darum gegangen, die Menschen zu informieren, wie sie sich für den Notfall vorbereiten könnten. Die Bevölkerung solle möglichst neutral darauf aufmerksam gemacht werden, sich selbst zu schützen, über Tipps und Handlungsempfehlungen. Das Amt sei sich durchaus bewusst gewesen, dass es sich hier um einen schmalen Grat handelt, dass hier keine Panik geschürt werden darf.
Die Kampagne laufe nicht nur in Zeitungen, sondern auch in den sozialen Netzwerken, über Youtube, hier zum Teil auch comicartig aufbereitet, heißt es.
Die nächste Frage, nämlich ob das Aufeinandertreffen der Zeitungsanzeige am heutigen Morgen mit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine in der Nacht zuvor nicht mindestens ungünstig wäre, möchte die Sprecherin nicht beantworten, sie verweist aber auf ein einstündiges Video auf Youtube – einen Livemitschnitt einer Diskussionsrunde aus dem Bundesamt – unter anderem mit dem Präsidenten der Behörde, welche unter dem Titel „Für alle Fälle vorbereitet“ schon im vergangenen Jahr veröffentlicht wurden sei.
Davon unbenommen: Am Morgen nach dem Einmarsch in der Ukraine also ein Aufruf in der Zeitung, konkret für zehn Tage bestimmte Lebensmittel einzukaufen.
Wir sprechen wieder mit der 85-Jährigen, die uns anschließend mit ihrer 93-jährigen Schwester verbindet. Die würde sich noch besser auskennen, „die war ja zum Kriegsende schon fast erwachsen.“
Ihre Schwester erinnert sich, dass im Krieg immer vor dem „Hamstern“ – also dem Horten von Lebensmitteln – gewarnt wurde. Da habe es schon mal böse Nachbarn gegeben, die so was gemeldet hätten. Die Wirtschaft sei aber gar nicht so ausgelegt gewesen, dass man große Vorräte hätte einkaufen können.
Damals so erzählt die 93-jährige rüstige Dame, habe der Kaufmann nur so viel Waren einkaufen können, wie er bezahlen konnte: „Geschäfte auf Pump waren nicht so verbreitet.“
Und auf dem Dorf hätten die Menschen von sich aus immer schon Vorräte gehabt:
„Kartoffeln und alles, was du selber geerntet hast, das musste ja auch für den Winter reichen. Das Fleisch wurde nach dem Schlachten eingesalzen und auch Wurst gemacht. Neben den Kartoffeln hatte man auch Rüben im Sand im Keller und draußen standen die Mieten, wo für das Vieh die Kartoffeln aufbewahrt wurden.“
Aber hat es denn im Krieg etwas genutzt, sich zu bevorraten? Welche Knappheiten gab es? Die schlimmste Zeit sei nach dem Krieg gewesen, erinnert sich die 93-Jährige:
„Hitler hat ja versucht, seine Leute oder seine Bevölkerung besser zu behandeln, als sie während des Ersten Weltkriegs behandelt worden war. Weil doch da die Engländer und die Amerikaner und Franzosen versucht hätten, die Deutschen auszuhungern. Da war doch der Hungerwinter 1917.“
Sie selbst habe immer Vorräte gehabt, sagt sie. Aber nicht nur wegen der eventuellen Notlage, sondern schon deshalb, weil man nicht immerzu einkaufen gehen konnte, nicht als man berufstätig gewesen sei und schon gar nicht als älterer Mensch:
„Bei mir war immer was da, ob das Honig war oder ein paar Kilo Mehl oder Zucker. Vor allem Zucker, am liebsten hätte ich mir einen ganzen Sack hingestellt, wenn ich den Platz gehabt hätte.“
„Die Kriegserfahrung hat da sicher mitgespielt“, erfahren wir. „Das habe ich ja schon von meinen Eltern gelernt. Bei uns kam doch nichts um. Da wurde alles irgendwie verwendet, ob das die alten Kartoffeln waren oder der restliche Eintopf. Mutti hat in Berlin so hungern müssen im Ersten Weltkrieg.“
Den Überfluss in den Supermärkten und das viele Wegschmeißen habe unsere Gesprächspartnerin nie verstehen können, erzählt sie. Sie entdeckte einmal am Waldesrand Kästen mit Tomaten, die dort heimlich entsorgt wurden.“ Natürlich habe ich mir da eine Kiste mitgenommen. Und einmal sah ich, das einen ganzes Brot im Müll obenauf lag, ehrlich, da kriegt man doch zu viel.“
Wir kommen auf die Krise in der Ukraine zu sprechen. Unsere Gesprächspartnerin macht sich zurzeit aber mehr Gedanken um ihre Gesundheit, erklärt sie eingangs, merkt dann aber noch an, dass die Amerikaner es nie so genau genommen haben, wo sie überall mitmischen: „Und die Russen machen es in Europa.“
Aber Angst habe sie nicht, was da in der Ukraine passiert: „Man kann nichts ändern. Wir können nichts machen. Das kann nur eine Macht oder eine Masse. Und darum mache ich mir da nicht zu viele Gedanken, man muss einen Tag nach dem anderen nehmen.“
Die 93-Jährige meint, dass nicht nur der Putin verantwortlich ist: „Ich glaube nicht, dass das nur einer macht. Da müssen mehrere mitspielen. Mein Vater sagte mal, wenn niemand an einem Krieg verdiene, dann gäbe es nicht so viele Kriege.“
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“
Bild: privat
Text: wal
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