Von Mario Martin
Die Debatte über den Ukrainekonflikt erregt die Emotionen. Eigentlich sollte man meinen, es wäre nach der ermüdenden Corona-Debatte Zeit für verbale Abrüstung. Leider ist dem nicht so.
Wenn allerdings noch diskutiert wird, dann steht eine Frage schnell im Mittelpunkt: Wurden Zusagen des Westens nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bezüglich einer kommenden NATO-Osterweiterung gemacht?
Dass dies der Fall gewesen sein soll, ist das zentrale Argument derer, die Verständnis für das aggressive Vorgehen Russlands haben. Die Argumentation baut auf der These auf, dass die NATO eine an Russland gegebene Abmachung brach und durch die Aufnahme der ehemaligen Ostblockstaaten dieses Versprechen nicht einlöste. Dadurch wäre nun eine militärische Bedrohung für Russland entstanden. Russland fühle sich von den vielen NATO-Ländern umzingelt und sieht seine Sicherheitsinteressen bedroht. Jetzt folgt mit dem Angriff auf die Ukraine die Befreiung, um dem NATO-Kessel zu entkommen.
So lautet die zugegebenermaßen simplifizierte Version des oft als Grund für den derzeitigen Konflikt herangezogenen Arguments, das auch bei Putin selbst im Mittelpunkt steht.
In seiner Rede am 21. Februar erklärte er, die NATO hätte Zusagen gegeben, keine osteuropäischen Staaten in die NATO aufzunehmen. Das Argument ist so zentral, dass Putin es in seiner knapp einstündigen Rede gleich in der Eröffnung anspricht.
Später in der Rede sagt Putin, nachdem er dem Westen die Missachtung des Völkerrechts vorgeworfen hat, dass zu diesen Missachtungen „auch die Versprechen an unser Land gehören, die NATO nicht einen Zoll nach Osten zu erweitern. Ich wiederhole: Sie haben uns betrogen, oder, um es im Volksmund zu sagen, uns einfach abserviert.“
Da der Sachverhalt so zentral für den Konflikt ist, ist eine genauere Untersuchung angebracht.
Um dem Fall aus den Grund zu gehen, nehmen wir das Buch “Not One Inch” der Historikerin Mary Elise Sarotte zur Hand. Das Buch zeichnet die Beziehungen der USA und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges nach und gibt Antworten auf die brennende Frage, ob Russland vom Westen in Sachen NATO-Osterweiterung hinters Licht geführt wurde, so wie Putin es behauptet.
Das ist die primäre Frage, die wir im Zuge dieses Beitrags klären wollen. Es soll nicht der Eindruck entstehen, seitens der NATO und ihrer Entscheidungsträger wären keine Fehler gemacht worden und es soll auch nicht die Frage geklärt werden, ob die Osterweiterung die richtige Entscheidung war oder ob der aktuelle Konflikt womöglich sogar von den Entscheidungsträgern auf beiden Seiten gewollt ist. Wir wollen feststellen, ob die von Putin gemachten Anschuldigungen der Realität entsprechen.
Gorbatschow: NATO-Erweiterung wurde nie diskutiert
Die beiden Schlüsselfiguren in den Verhandlungen der Jahre 1989 und 1990 waren der damalige Außenminister der Vereinigten Staaten unter Präsident George H.W. Bush, James Baker, und der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow.
Aus den Recherchen der Historikerin geht nun hervor, dass es ein Versprechen hinsichtlich einer Nicht-Erweiterung seitens der NATO und der USA nie gegeben hat. Bestätigt wird dieser Sachverhalt von Gorbatschow selbst. (S.10, M.E. Sarotte – Not One Inch)
Auf die Frage hin, warum Gorbatschow nicht auf eine rechtliche Kodifizierung der Zusage Bakers bestanden hätte, die NATO nicht einen Inch weiter nach Osten expandieren zu lassen, antwortet der ehemalige Generalsekretär in einem Interview aus dem Jahre 2014:
“Das Thema ‚NATO-Erweiterung‘ wurde überhaupt nicht diskutiert, und es wurde in jenen Jahren auch nicht angesprochen. Ich sage das mit voller Verantwortung. Kein einziges osteuropäisches Land hat das Thema angesprochen, auch nicht nach der Auflösung des Warschauer Paktes 1991. Auch die westlichen Staats- und Regierungschefs haben es nicht zur Sprache gebracht.”
Dies impliziert auch Gorbatschows Äußerungen vom 18. Mai 1990, die von Baker an Bush übermittelt wurden. Wie der Außenminister Bush mitteilte, war der sowjetische Führer verärgert über „Anzeichen, dass wir versuchen, die Osteuropäer wegzulocken“. Gorbatschow fügte hinzu, „‚wenn sie von sich aus weggehen wollen, okay“, aber Washington „sollte das nicht fördern“. (S.87, M.E. Sarotte – Not One Inch)
Gorbatschow wollte NATO-Beitritt
Nicht nur war Gorbatschow sich der Bestrebungen, die NATO weiter auszudehnen, völlig bewusst. In den Aufzeichnungen Gorbatschows vom 18. Mai 1990 ist zu lesen: „Ich habe Baker gesagt: Wir sind uns Ihrer positiven Haltung gegenüber der von einer Reihe von Vertretern osteuropäischer Länder geäußerten Absicht bewusst, aus dem Warschauer Pakt auszutreten, um später der NATO beizutreten.“
Wenn das geschehe, so Gorbatschow, werde er selbst den Beitritt der Sowjetunion verlangen, und was würde Washington dann tun?
Am 18. Mai 1990 ist in Gorbatschows Aufzeichnungen zu lesen: „Ich werde dem Präsidenten vorschlagen und öffentlich sagen, dass wir der NATO beitreten wollen“, teilte Gorbatschow Baker mit.
„Dies, so betonte er, sei ‚keine Absurdität‘, sondern vielmehr eine ernsthafte Überlegung. Als Baker es vermied, direkt zu antworten, wiederholte Gorbatschow, dass ‚unsere Mitgliedschaft in der NATO keine so wilde Fantasie ist. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion waren einmal Verbündete gewesen, warum nicht wieder?’” (S.88, M.E. Sarotte – Not One Inch)
Aus Gorbatschows Mund hören wir also nicht nur die Bestätigung, dass die NATO-Erweiterung niemals Verhandlungssache war und schon gar nicht rechtlich kodifiziert wurde. Wir hören weiterhin, dass er selbst der NATO beitreten wollte.
Gorbatschow war nicht glücklich über die Situation und er drückte diesen Missmut auch aus, aber daraus einen Vorwurf zu konstruieren, wie er sogar von Putin permanent gemacht wird, erscheint angesichts der Faktenlage grundlegend falsch zu sein.
Sarottes Recherchen zeigen, dass Moskau kein Versprechen gegeben wurde, die NATO nicht zu erweitern. Vielmehr unterzeichnete Moskau Verträge, die die NATO näher an die Grenzen Russlands heranführte.
Denn es wurde sogar jedem Land des ehemaligen Ostblocks freigestellt, sich der NATO anschließen: „Wir haben jetzt die Frank-Sinatra-Doktrin.“, äußerte der damalige Sprecher des Außenministeriums, Gennadi Gerassimow. „Er (Sinatra) hat ein Lied, ‚I Did It My Way‘. So entscheidet nun jedes Land selbst, welchen Weg es gehen will.“
Wollte Moskau gar, dass die Länder der NATO beitreten?
Das Angebot von IM Tulpe
Immer wieder wird in diesem Zusammenhang Hans-Dietrich Genscher zitiert, der den Russen zusammen mit James Baker versprochen hätte, die NATO nicht weiter nach Osten zu erweitern.
Hier sagt Genscher am 8. Februar 1990 in Washington, die NATO nicht weiter nach Osten ausdehnen zu wollen.
Die Äußerungen wurden aber unter anderen Vorzeichen gemacht. Baker und Genscher offerierten Gorbatschow hier, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, wenn Moskau wesentlich mildere Bedingungen für die deutsche Wiedervereinigung akzeptiere. Das Angebot wurde von Moskau ausgeschlagen. Die finalen Bedingungen für Deutschland waren wesentlich kostspieliger.
Weiterhin war Genscher überhaupt nicht befugt, als deutscher Außenminister für die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts festzulegen, welchem Militärbündnis sie sich in Zukunft einmal anschließen sollen, ohne dies vertraglich abzusichern.
Pikant ist auch, dass Genscher selbst als inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR unter dem Decknamen IM Tulpe geführt wurde. War Genscher ein Stasi-Mitarbeiter? Der Spiegel berichtete, die Akte wurde in den 80er Jahren von der Stasi vernichtet, da es sich herausgestellt habe, “daß Genscher keine den Zielen der DDR zuwiderlaufende Politik betreibe”.
Die Stasi stellte Genscher also auch noch ein gutes Führungszeugnis aus. Waren die höchsten Kreise der BRD-Führung von der Stasi und damit von Moskau unterwandert? Genscher war laut Spiegel jedenfalls nicht erfreut, als er auf den Umstand angesprochen wurde.
Die Historikerin Sarotte schreibt, dass die westlichen Alliierten sich im Zuge der Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Deutsche Wiedervereinigung rechtlich regelte, im September 1990 fragten, auf wessen Seite Genscher und die Deutschen stünden. (S.100, M.E. Sarotte – Not One Inch) Nicht nur hatte Deutschland Zusagen über zwölf Milliarden DM (+ drei Milliarden DM zinsfreie Kredite) an Moskau gegeben, obwohl Finanzminister Waigel davor warnte, das Budget mit mehr als sechs Milliarden zu belasten, Genscher stelle sich auch hinsichtlich der Frage der Truppenstationierungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und in den östlich angrenzenden Ländern quer. Die von Genscher ausgehandelte Lösung war den westlichen Alliierten ein Dorn im Auge.
Wohlgemerkt geht es hier um die Frage der Truppenstationierung und nicht um die Verhandlung der Frage einer generellen NATO-Erweiterung, die es laut Gorbatschow nie gegeben hat.
Truppenstationierung im Zwei-plus-Vier-Vertrag
„Die Frage der künftigen Bewegungsfreiheit der NATO war so wichtig, dass die westlichen Verbündeten bereit waren, die Wiedervereinigung zu riskieren. Insbesondere Großbritannien und die Vereinigten Staaten würden ein dauerhaftes Verbot der Überquerung der innerdeutschen Grenze des Kalten Krieges nicht akzeptieren, und zwar sowohl aus Sorge darüber, was dies für Deutschland bedeuten würde, als auch wegen der langfristigen Auswirkungen.“ (S.102, M.E. Sarotte – Not One Inch)
Am 11. September 1990 reiste eine Delegation westlicher Diplomaten nach Moskau, um dort den Zwei-plus-Vier-Vertrag am nächsten Tag zu unterzeichnen. Die Frage nach der Stationierung von NATO-Truppen in der ehemaligen DDR und weiter östlich war zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht geklärt. Nachdem eine zweistündige Verhandlung zwischen Genscher und Eduard Schewardnadse, dem damaligen Außenminister der Sowjetunion, keine Ergebnisse lieferte, die westlichen Alliierten aber zusätzlich irritierte (bilaterale Gespräche waren in der Situation nicht vorgesehen), fand man spät am Abend doch noch eine Lösung.
Dem Zwei-plus-Vier-Vertrag (S. 1328) wurde ein Passus angefügt, wonach Deutschland die Definitionshoheit darüber erhalten sollte, wie eine Truppenstationierung in den betroffenen Gebieten definiert werden sollte.
„Zwar würde der formelle Vertrag weiterhin festlegen, wie es Moskau wollte, dass ausländische Truppen östlich der innerdeutschen Grenze von 1989 weder stationiert noch eingesetzt werden.“, schreibt Sarotte (S.103/104, M.E. Sarotte – Not One Inch). Nun wurde aber die Definition, was unter einem Truppeneinsatz zu verstehen sei, geändert. Gemäß der spät am Abend verhandelten „Vereinbarten Niederschrift“ liegt ausschließlich im Ermessen der Regierung des vereinigten Deutschlands, was unter einem Truppeneinsatz zu verstehen sei. Diese Niederschrift diente als schriftliche Bestätigung dafür, dass ausländische NATO-Truppen die Gebiete der ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts betreten durften.
Alle Parteien stimmten zu, dem Vertrag die „Vereinbarte Niederschrift“ hinzuzufügen – gerade noch rechtzeitig, um die Unterzeichnung zu ermöglichen.
Schewardnadse unterzeichnete die beiden entsprechenden Seiten und gab damit die sowjetischen Rechte auf. Er leitete den langsamen Abzug der sowjetischen Truppen in die Wege und ermöglichte den ausländischen Streitkräften der NATO die Grenzen des Kalten Krieges, nach dem Ermessen der deutschen Regierung, zu überschreiten. (S.104, M.E. Sarotte – Not One Inch)
Später wurde James Baker zu der russischen Behauptung gefragt, dass eine Zusage des Westens bestehe, die NATO nicht zu erweitern. Er antwortete: „Wenn sie meinen, eine verpflichtende Zusage gehabt zu haben, warum haben sie dann einen formellen Vertrag unterzeichnet, der die NATO-Grenze im September 1990 nach Osten erweiterte?“
Am 21. Dezember 1991 wurde die Sowjetunion, bestehend aus 15 Unionsrepubliken, durch die Alma-Ata-Deklaration aufgelöst. Die Sowjetunion hörte auf dem Papier auf zu existieren und wurde zur Russischen Föderation. Die Funktionäre und Seilschaften wechselten allerdings kaum. Nach Gorbatschow kam 1991 das nächste ehemalige Mitglied des Zentralkomitee der Kommunistischen Partei an die Macht, Boris Jelzin. Einen Tag vor der Jahrtausendwende folgte dann der ehemalige KGB-Oberstleutnant Wladimir Putin.
Putins Behauptungen
Die nun von Putin in seiner aktuellen Rede gewählten Worte „Dazu gehören auch die Versprechen an unser Land, die NATO nicht einen Zoll nach Osten zu erweitern. Ich wiederhole: Sie haben uns betrogen, oder, um es im Volksmund zu sagen, uns einfach abserviert“, sind eine Falschaussage. Es gab keine rechtlich bindenden Zusagen, das geht aus den persönlichen Aufzeichnungen und Aussagen Michail Gorbatschows hervor. Gäbe es sie, hätte Putin sie inzwischen vorgelegt. Und damit wurde Russland in dieser Hinsicht auch nicht betrogen. Das Thema wurde nicht einmal diskutiert, gab Gorbatschow zu Protokoll.
Die Politik sei ein schmutziges Geschäft, fährt Putin fort. Das sagt der Mann, der im Satz vorher eine klare Lüge erzählt hat und unter dessen Herrschaft zahlreiche Dissidenten, Kritiker und Menschenrechtler kaltblütig ermordet wurden.
Und nicht nur das. Die von Putin beschworene militärische Gefahr durch die NATO existiert in der Form nicht. Die NATO und die USA haben zwar Stützpunkte in den angrenzenden NATO-Staaten, wer sich allerdings mit der strategischen Lage befasst, wird schnell feststellen, dass die in den NATO-Ländern stationierten Truppenkontingente und auch die Armeen der westlichen Staaten generell für Russland keine militärische Gefahr darstellen. Dazu reicht ein Blick auf die Ausrüstung und Mannstärken und den Mobilisierungsgrad der Armeen.
Es scheint oft vergessen zu werden, dass Soldaten und Waffen benötigt werden, um eine reale Gefahr zu projizieren. Ein paar Punkte auf einer Karte sind nicht gleichzusetzen mit der Größe einer Panzer-Armee (USA: 6.612 – Russland: 12.270) oder dem Unterschied an Reservisten, den die Armeen der USA und Russlands aufweisen (USA: 849.450 – Russland: 2.000.000).
Putin ist sich dessen bewusst. Er weiß, dass er sich in einer überlegenen militärisch-strategischen Position befindet und die Schwächen der NATO ausnutzen kann. Er ist kein strategischer Laie, sondern ein schlauer und gefährlicher Taktiker, der gerade den deutschen Politikern haushoch überlegen ist. Neben Putin wirken sie wie Kinder, die nicht wissen, wie ihnen geschieht.
Nicht nur hat Russland das modernste und größte Atomwaffenarsenal der Welt (und darauf kommt es an, wenn es hart auf hart kommt), die Streitkräfte Russlands besitzen einen Mobilisierungsgrad, an den die NATO-Länder erst nach Jahren herankämen, falls sie jetzt anfangen würden, ihre Armeen zu modernisieren und Soldaten zu rekrutieren.
Bei den Vorwürfen Putins hinsichtlich der Einkesselung durch die NATO handelt es sich allem Anschein nach um einen Vorwand. Eine militärstrategische Bedrohung besteht für die Russen derzeit nicht. Und im Besonderen nicht, wenn man ein sino-sowjetisches Militärbündnis der beiden Weltmächte annimmt. Ein Vergleich der militärischen Kräfteverhältnisse lässt daran kaum Zweifel. Die strategische Position der NATO-Länder ist wenig erbaulich.
Putin und seine Anhänger im Westen sprechen ausschließlich von den Sicherheitsinteresse seines Landes. Die Sicherheitsinteressen der Ukraine ignorieren sie hingegen vollständig. Mit der Invasion der Ukraine – und der Annexion der Krim – wurde das Budapester Memorandum von 1994 gebrochen, in dem Russland die territoriale Integrität der Ukraine garantierte und die Ukraine im Gegenzug das eigene Atomwaffenarsenal aufgab. Auch die Narben des Holodomor sind nach 90 Jahren nicht verheilt.
Das nukleare Kräftegleichgewicht
Ein wesentlicher Grund für das aggressive Vorgehen der Russen und Chinesen liegt im inzwischen veralteten amerikanischen Nuklearwaffenarsenal, das keine ausreichende Abschreckung mehr darstellt. Warnungen zu diesem Umstand wurden von der US-Führung seit Längerem konsequent ignoriert.
„Seit dem Ende des Kalten Krieges sind wir weltweit führend bei der Reduzierung der Anzahl und der Arten von Kernwaffen in unserem Arsenal, während unsere Gegner den umgekehrten Weg gegangen sind und ihre Fähigkeiten erweitert haben“, heißt es dazu vom STRATFOR-Leiter, Admiral Richard, bei einer Anhörung vor dem Unterausschuss für strategische Streitkräfte des Repräsentantenhauses im Februar 2020.
Das veraltete Nuklearwaffenarsenal der USA ist ein bedeutender Grund für das verschobene geostrategische Kräfteverhältnis, das den derzeitigen Konflikt erst möglich gemacht hat.
Der amerikanische Experte auf dem Gebiet der Nuklearwaffen, Dr. Peter Vincent Pry, schreibt dazu: “Die Strategen im Elfenbeinturm, die Washington beherrschen, nicht wenige im Pentagon und im Außenministerium, die uns zuletzt Afghanistan beschert haben, behaupten, die USA würden den Dritten Weltkrieg unweigerlich gewinnen. [..] Diese Denkweise vergisst, dass wir heute im Zeitalter der Atomraketen leben, und ignoriert, dass Moskau und Peking wahrscheinlich zuerst Atomwaffen einsetzen werden, vielleicht gleich zu Beginn, um einen schnellen und entscheidenden Sieg zu erringen. [..] Russland und China vermuten, dass die USA und ihre Verbündeten nicht bereit sind, sich in einem Atomkrieg zu opfern. Tatsächlich fürchten sich die USA sogar vor ihren eigenen Atomwaffen, die sie seit 30 Jahren nicht modernisiert haben, und halten deren Einsatz für ‚undenkbar‘.“
Abrüstung funktioniert eben nur, wenn beide Seiten mitmachen. Russland scheint jedoch Probleme zu haben, die im INF-Vertrag getroffenen Abmachungen einzuhalten und tatsächlich abzurüsten.
Die aufgehende Schere des nuklearen Kräfteverhältnisses ist im Westen ein Tabuthema. Hier stehen andere Themen im Fokus, wie Gendertoiletten und Diversität. Politische Realitäten stören da nur. „Alle politische Macht kommt aus dem Lauf einer Waffe“, sagte Mao Zedong. Im Westen denkt man, dieser Satz sei überholt. Die Friedensdividende der relativen Schwäche Russlands und Chinas nach dem vorgeblichen Ende des Kalten Krieges, von der der Westen mehr als zwei Jahrzehnte zehrte, scheint nun aufgebraucht.
Die fatale Idee, wir seien mit unseren liberalen Demokratien – die inzwischen nicht mehr so liberal sind – am Ende der Geschichte angelangt (Francis Fukuyama) ist ein Musterbeispiel für die Verleugnung politischer Realitäten, wie sie im Westen heute an der Tagesordnung steht. Politische Macht fließt noch immer aus dem Lauf einer Waffe, auch wenn diese Einsicht nicht so recht in der Komfortzone des postmodernen Westlers Platz finden will. Ukrainer und die Taiwanesen sehen die Sache vermutlich anders.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Mario Martin ist Ökonom und arbeitet als Software-Projektmanager in Berlin.
Bild: ShutterstockText: mm