Warum mich die Spahn-Umfrage an den Eunuchen Zhao Gao erinnert "Meinungsforschung" als absurdes Theater

Oft sagen die ersten Gedanken, die einem beim Lesen einer Nachricht durch den Kopf gehen, mehr aus, als lange Analysen. Als mir gerade ein Leser einen Link zu einer Umfrage schickte, der zufolge Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der beliebteste deutsche Politiker sei und insbesondere bei Frauen gut ankomme, musste ich intuitiv an meine Bekannte, die russische Schriftstellerin Julia Latynina denken, und an ein Zitat von ihr, das ich auch gleich wiederfand in einem meiner Bücher: „Im alten China wollte 207 v. Chr. der nach der Macht greifende Eunuch Zhao Gao prüfen, wer am Hof bedingungslos zu ihm hielte und für einen Staatsstreich zu gebrauchen wäre. Er führte dem Hofstaat einen Hirsch vor – und pries ihn als besonders edles Pferd an. Weder die Beamten noch der Kaiser selbst wagten zu widersprechen; beklommen sprachen alle von dem »Pferd«.“ Die Geschichte ging sogar als Redewendung in die chinesische Sprache ein: „Zeige auf einen Hirsch und nenne ihn ein Pferd“.

Meine erste Assoziation ist böse und mag hochgradig politisch inkorrekt sein – aber wer kann schon seine Assoziationen steuern? So sehr mir jeder Tiervergleich fern liegt (ich betone ausdrücklich, dass mich Spahn weder an ein Pferd noch an einen Hirsch erinnert) und so wenig ich an einen Staatsstreich glaube (dazu wären unsere Regierenden nicht draufgängerisch genug – zumindest für einen klassischen, nicht-schleichenden) – ich dachte an dieses Zitat, weil hier ganz offensichtlich der Öffentlichkeit in einer Dreistigkeit eine Absurdität als Wahrheit aufgedrückt wird, die sprachlos macht. Und die ich aus Russland bzw. aus Latyninas Worten kenne. Bereits vor einigen Wochen erzählte mir ein einst hochrangiger Ex-Politiker (m/w/d), dass Jens Spahn derzeit als Nummer eins in der Merkel-Thronfolge gelte. Wenn dem so ist, müsste der Mann mit dem Charisma eines Sparkassen-Sachbearbeiters (diese mögen es mir verzeihen) und der gefühlten Durchsetzungskraft eines Ministranten (die ich ebenfalls um Nachsicht bitte) durch die Medien künstlich hochgeschrieben werden.

Kritiker sagen Spahn nach, er habe nicht nur einen Drang zu Luxus-Immobilien (siehe Causa „NeuSpahnstein„), sondern auch ein nicht ganz  unausgeprägtes Machtgelüst. Sei’s drum. Man mag Spahn und seine Arbeit schätzen – oder nicht. Aber ihn zum beliebtesten Politiker aufzublasen, ist dreist. Und absurd. Im konkreten Fall handelt es sich um eine Umfrage des Institutes „Kantar“ (nicht zu verwechseln mit „Katar“, was ich zuerst las) für die Bild am Sonntag aus dem Hause Springer, das der CDU traditionell gewogen ist. Sieht man ins „Kleingedruckte“, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Da heißt es etwa beim MDR, der diese Angaben wohl von einer Nachrichtenagentur übernahm: „Kantar befragte am 18. Dezember 505 repräsentativ ausgewählte Personen. Gestellt wurde die Frage: ‘Von welchem der folgenden Politiker wünschen Sie sich im kommenden Jahr 2021 eine möglichst große Wirkung in der deutschen Politik?‘ Abgefragt wurden insgesamt 18 Politiker.“

Das könnte man fast schon als Idiotentest für die Leser bezeichnen. Zum einen sind 505 Befragte eine sehr geringe Zahl – die INSA-Umfragen, die ich selbst in Auftrag gebe für meine Seite, umfassen immer mehr als 2000 Befragte. Im Falle Spahn wird nicht einmal angegeben, wie befragt wurde. Per Telefon? Online? Zudem ist die Frage selbst zweifelhaft. „Eine möglichst große Wirkung wünschen“ und für den beliebtesten Politiker zu halten, wie es dann in den Überschriften hieß – das sind zwei Paar Schuhe. Außerdem war die Frage nicht offen, sondern es wurden 18 Politiker vorgegeben. Ohne zu wissen, mit wem Spahn da in Konkurrenz steht, ist das Ergebnis im Zweifelsfall so ernst zu nehmen wie die Frage an einen Fleisch-Liebhaber im veganen Restaurant, welchem Gericht auf der Speisekarte er auf seinem Teller „die wichtigste Rolle wünsche“.

Das Institut Kantar will bereits im Januar herausgefunden haben, dass angeblich 76 Prozent der Bürger persönlich gern Steuern zahlen. Die Umfrage war im Auftrag des Finanzministeriums erstellt worden – welcher Zufall!

Besonders interessant ist, wie breit die Spahn-Nachricht durch die Medien ging. Offenbar war eine maximale Reichweite erwünscht. Während etwa meine Umfrage bei INSA, wer der unbeliebteste Politiker in Deutschland sei (mit mehr als 2000 Befragten und ohne die Vorgabe von Namen) kein einziges Medium weiterverbreitete. Das Ergebnis war: Angela Merkel ist die unbeliebteste Politikern, vor Alexander Gauland und Alice Weidel (Hintergründe siehe hier und hier).

Und auch wenn es schwerfällt: Ich verkneife mir jetzt jede weitere Erwähnung des Eunuchen Zhao Gao sowie von Hirschen und Pferden.


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Bild: Matthias Wehnert/Shutterstock
Text: br


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