Von Mario Martin
Wir kennen die COVID-Pass-App aus Deutschland. Sie dient den (noch) Geimpften unter uns als digitaler Ausweis zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, wobei mancherorts auch ein Screenshot des Zertifikats ausreicht. Zumindest in Einrichtungen, die den Code nicht digital überprüfen. Sich dieses Schlupflochs bewusst, hatte Jens Spahn in der BPK vom 12.11. dazu aufgerufen, die Zertifikate mit der kostenlosen Validierungsapp zu prüfen. Spahn hatte absurderweise sogar vorgeschlagen, die eigenen Angehörigen zu kontrollieren.
Zuletzt gab es jedoch bereits Mängel in der App, die noch immer nicht behoben sind. Die beschriebenen Fake-Zertifikate werden auch nach fast drei Wochen weiterhin als gültig angezeigt.
Referendum über die COVID-Pass-App
Die COVID-Pass-App ist einer der Gründe für die Änderung des Schweizer COVID-19-Gesetzes, das um die Anwendung des digitalen Zertifikats und einiger weiterer Punkte ergänzt wurde.
Über die Änderung wird am 28. November in einem Referendum abgestimmt.
Das aktuelle Schweizer COVID-19-Gesetz wurde im September 2020 vom Parlament verabschiedet. Es regelt die Maßnahmen, mit denen der Bundesrat die Folgen der Ausbreitung von COVID-19 bekämpfen und die wirtschaftlichen Schäden abmildern will.
In einer ersten Referendumsabstimmung wurde das ursprüngliche Gesetz von den Stimmberechtigten im Juni 2021 angenommen. Nun wird erneut über Gesetzesänderungen abgestimmt, die vom Parlament im März 2021 beschlossen wurden. Die Neuerungen enthalten aber nicht nur Regelungen zum Einsatz des COVID-Zertifikats, sondern auch Finanzhilfen an Betroffene, die bisher nicht ausreichend versorgt wurden.
Hier sehen Sie das Video zum Referendum, produziert vom Schweizer Bundesrat. Machen Sie sich selbst ein Bild.
Dem Autor erscheint es zumindest als fragwürdig, zuerst den Aspekt der Finanzhilfen zu behandeln, obwohl der Stein des Anstoßes eindeutig auf der vom COVID-Zertifikat ausgehenden Kontrolle liegt. Darüber hinaus ist ein Interessenskonflikt naheliegend, wenn staatliche Stellen vermeintlich neutrale Informationen zu einer Abstimmung bereitstellen, in der sie selbst Partei und damit befangen sind.
Kontra
Die Gegner der Gesetzesänderung beklagen die Segregierung und Diskriminierung, die durch die Einführung des Gesetzes entstehen würde. Menschen ohne gültigen Pass könnten dann nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, ohne “geimpft”, genesen oder getestet zu sein. Es entstehe ein indirekter Impfzwang, so die Gegner.
Maßnahmenkritiker wie die «Freunde der Verfassung» und «Mass-Voll» sprechen zudem von einer bewussten Täuschung der Wähler, da bei der ersten Abstimmung im Juni nicht alle Artikel des aktuellen (angenommenen) COVID-19-Gesetzes in der Informationsbroschüre, die allen Stimmberechtigten in der Schweiz vor der Abstimmung zuging, enthalten gewesen sein sollen. Die Wähler wären also nicht umfassend informiert gewesen.
Im Fokus der Kritik am neuen Gesetz stehen die folgenden Punkte:
- Machtausdehnung der Exekutive
- Massenüberwachung mit Contact-Tracing
- Zweiklassengesellschaft
- Diskriminierung Ungeimpfter
Deutlich wird: Die Kritik richtet sich keineswegs gegen die finanziellen Hilfen, sondern gegen Massenüberwachung und Kontrolle der Bürger.
Pro
Parlament, Bundesrat und die Befürworter der Gesetzesänderung führen den Bedarf neuer Finanzhilfen für die Geschädigten vornan. Ein “Nein” gefährde die Krisenbewältigung. Außerdem drohe eine Überlastung des Gesundheitssystems, wenn der elektronische Pass nicht eingeführt werden würde. Unkontrollierte Ansteckungen wären die Folge. Das ist soweit bekannt und auch bei uns die Argumentationsgrundlage der Befürworter der 2G-Regelung. Weitere Argumente, die die Schweizer Bürger zu einem „Ja“ bewegen sollen, sind:
- Das digitale Zertifikat würde angeblich keinen indirekten Impfzwang bedeuten, da es auch für Genesene und Getestete Gültigkeit besitze.
- Das Zertifikat erleichtere das Reisen. Ohne das Zertifikat würde die Einreise in andere Länder nur sehr umständlich möglich sein.
- Die Einführung verhindere neue Schließungen, die zwangsläufig vorgenommen werden müssten, wenn zukünftig nicht segregiert werden könne, um die Menschen zu schützen.
- Das Contact-Tracing müsse weiterentwickelt werden, da dies für die Bekämpfung der Pandemie zentral wäre.
In der Argumentation der Befürworter stehen aber eher die finanziellen Hilfen im Fokus. Man könnte sagen, es wird vonseiten der Befürworter an der Sache teilweise vorbei argumentiert, da nicht zu erwarten ist, dass die finanziellen Hilfen nicht von der Gegenseite beanstandet werden.
Druckmittel für die Zustimmung
Die Methode, den Bürger mit einer Stimme gleichzeitig für finanzielle Hilfen für Geschädigte der Pandemie und u.a. für das Covid-Zertifikat votieren zu lassen, ist anrüchig. Die Abstimmung wird so gleichzeitig zur Solidaritätsfrage. Überhaupt scheint es inzwischen üblich zu werden, brisante Gesetze so zu stricken, dass absichtlich eine soziale Komponente einbezogen wird, um die Wähler in eine moralische Zwickmühle zu bringen: Entweder sie stimmen dem Gesetz zu oder sie riskieren bei Ablehnung finanzielle Nachteile der bedürftigen Mitbürger.
Bei allen Stimmberechtigten sollten die Alarmglocken läuten, wenn auf diese Art moralischer Druck aufgebaut wird. Eine seriöse Gesetzgebung trennt wichtige Sachfragen voneinander, um eine differenzierte Bewertung und Abstimmung zu ermöglichen.
Auch die anderen Argumente tragen erpresserische Züge: Es wird mit Freiheitsentzug und erschwerter Bewegungsfreiheit gedroht, sollte nicht das richtige Ergebnis erzielt werden. Es wird der Anschein erweckt, als seien die Einschränkungen eine quasi gottgegebene Zwangsläufigkeit, die nur durch die Annahme des Gesetzes vermieden werden könnten.
Mangelhafte Berichterstattung
Die »NZZ« (Neue Zürcher Zeitung), sonst immerhin noch gelegentlich ein liberaler Restposten innerhalb der Medienlandschaft, liefert ein weiteres Negativbeispiel in ihrer Berichterstattung zum anstehenden Referendum.
Dort heißt es: Geimpfte erkranken kaum noch schwer und belasten dadurch das Gesundheitssystem viel weniger. […] Die Impfung gilt deshalb als einziger Weg aus der Pandemie.
Die Impfung als Allheilmittel und Voraussetzung für die Normalisierung der Verhältnisse. Wäre dies der Fall, dann wäre damit im gleichen Atemzug die Nützlichkeit des elektronischen Zertifikats gegeben, da die wirksame „Impfung“ nur über das Zertifikat effizient geprüft werden könnte.
Die Wahlentscheidung ist damit eigentlich schon vorweggenommen, indem wichtige Informationen vorenthalten werden.
Denn, dass dies gerade nicht der Fall ist, wie im Zitat behauptet wird, kann hier und hier nachvollzogen werden. Die Anzahl der bestätigten Impfdurchbrüche sprechen eine eindeutige Sprache. Auch Christian Drosten widerspricht der Darstellung, wir hätten eine “Pandemie der Ungeimpften”.
Die Gültigkeit dieser Grundannahme ist aber die Sine qua non der Einführung des COVID-Zertifikats. Fällt diese Annahme, dann ergibt das ganze Vorhaben keinen Sinn mehr.
Dieser essentielle Punkt findet in der NZZ nicht statt.
Warum sollte man Menschen voneinander trennen, wenn es keine Unterschiede in der Ansteckungsgefahr gibt? Oder wenn die Ansteckungsgefahr von Geimpften möglicherweise sogar höher ist?
Dazu kommt, dass Geimpfte innerhalb der Phase, in denen der Impfschutz besteht, möglicherweise sogar für einen erheblichen Teil der Infektionen verantwortlich sind. Da es keine Unterschiede bei der Ansteckungsgefahr gibt, sich die Geimpften durch die Impfung aber weniger krank fühlen, besteht eine erhöhte Chance, dass sie andere Menschen durch Unvorsichtigkeit anstecken.
Würde man hypothetisch die Gesellschaft einem vernichtenden No-COVID-Regime unterwerfen wollen, dann wären Testungen die einzige Möglichkeit. Geimpfte nicht zu testen, Ungeimpfte aber schon, ergibt angesichts der Situation keinen Sinn. Es ist sogar gefährlich, da die Geimpften in falscher Sicherheit viel öfter zu Verbreitern der Krankheit werden.
Impfdurchbrüche steigen auch in der Schweiz an
In der Schweiz sind inzwischen knapp 65 % der Menschen geimpft. Wie in Deutschland hat eine Sättigung eingesetzt. Seit dem 01.10. haben sich nur noch 1,7 % der Bevölkerung für die Erstimpfung entschieden. Im Gegensatz zu Deutschland wird in der Schweiz der Impfstatus beim Krankenhausaufenthalt in der Regel erfasst. Die Daten entnehmen Sie hier.
Inzwischen nimmt der Anteil der an COVID-19 gestorbenen Geimpften auch in der Schweiz zu, wie auf gmx.ch zu lesen ist: „Laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) müssen momentan häufiger auch vollständig geimpfte Personen nach einer COVID-19-Infektion in ein Spital eingewiesen werden. Ende Oktober starben demnach 22 Ungeimpfte und 24 Geimpfte.“
Begründet wird dies mit der höheren Impfquote bei älteren Menschen. Da diese bei rund 90 % liege, sei ein solches Bild erwartbar.
Die Grafik zeigt den anteiligen Impfstatus der an COVID-19 gestorbenen Personen.
Framing der Kritiker
Auch die Stigmatisierung der kritischen Stimmen, die auch aus Deutschland bekannt ist, finden wir in der Schweiz wieder.
Der Berner Sicherheitschef, Reto Nause, zieht Parallelen zu den dubiosen Vorgängen rund um die Stürmung des Capitols in den USA im Januar dieses Jahres. Er befürchte ähnliche Vorgänge am Tage der Abstimmung, falls das Gesetz bestätigt werde. Damit rückt er die Gegner in die extremistische Ecke:
“Was, wenn die Gegner des Covid-Gesetzes das demokratische Verdikt nicht akzeptieren?“ Die Rhetorik der Bewegung zeige erschreckende Parallelen zu den USA, wo Unterstützer von Donald Trump das Resultat der Präsidentschaftswahl nicht akzeptierten und Anfang Jahr das Capitol stürmten. (Nau.ch)
„Die Bewegung der Massnahmengegner ist bedrohlich und bereitet uns grosse Sorgen. Auf einschlägigen Portalen ist schon dazu aufgerufen worden, sich zu bewaffnen“, so Nause weiter.
Wir erinnern uns an die Vorgänge am Reichstag vom 29. August 2020, als dort eine rechtsradikale Demonstration genehmigt wurde; an deren Rande kam es dann zur angeblichen “Erstürmung” des Reichstags, die in Wirklichkeit gar keine war, aber medial zu einer solchen aufgeblasen wurde. Woraufhin alle Teilnehmer der größeren, friedlichen Grundrechtsdemo am Großen Stern per Kontaktschuld der Extremistendemo zuordnet wurden und dadurch von der übrigen Bevölkerung als gewalttätige Angreifer wahrgenommen wurden.
Diese Art der Stigmatisierung wird auch vom Berner Sicherheitschef angewandt.
Die Kommentare unter dem Artikel zeigen hingegen eine viel deutlichere Tendenz. Mitunter wird dort auch vor potenziellen Wahlmanipulationen gewarnt.
Laut der NZZ sehen die Umfragen jedoch die Befürworter klar im Vorteil. Die Rede ist von einer Umfrage der Tamedia, die eine deutliche Mehrheit von rund 69 Prozent für die Befürworter sieht.
Die Abstimmung am 28. November könnte nicht nur für die Schweizer von Wichtigkeit sein. Wird das Gesetz abgelehnt, könnte das gesamte Corona-Maßnahmen-Regime in der Schweiz kippen. Da in anderen Ländern gar nicht erst über die Maßnahmen abgestimmt werden darf, hat das Referendum auch für Bürger andere Länder Relevanz, da hier ein belastbares Stimmungsbild entsteht.
Hier mein neuestes Video von der Bundespressekonferenz:Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Mario Martin ist Ökonom und arbeitet als Software-Projektmanager in Berlin.
Bild: ShutterstockText: Gast