Ein Gastbeitrag von Vera Lengsfeld
Als ich schrieb, Corona soll eine Endlos-Geschichte werden, weil der Beschluss, die Pandemie nicht mit medizinischen, sondern mit politischen Mitteln zu bekämpfen, den Politikern ungeahnte Machtmittel in die Hand gegeben hat, die sie ungern wieder hergeben wollen, ahnte ich nicht, dass unser höchstes Gericht die Politik auf ihrem Weg zu Willkürmaßnahmen stärkt.
Am 19. Mai kam die Meldung, dass das Bundesverfassungsgericht eine endgültige Entscheidung zum umstrittenen Infektionsschutzgesetz getroffen hat. In den gleichlautenden Meldungen von „Spiegel“ bis „Bild“ heißt es, das höchste deutsche Gericht hätte die Pflege-Impfpflicht bestätigt und eine Verfassungsbeschwerde von mehr als vierzig Klägern zurückgewiesen. Zur Begründung liest man lediglich, zwar greife die einrichtungsbezogene Impfpflicht in die körperliche Unversehrtheit ein, doch sei dies verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Der Gesetzgeber verfolge den legitimen Zweck, vulnerable Gruppen vor einer Infektion zu schützen. Dies wiege verfassungsrechtlich schwerer als die Beeinträchtigung der Grundrechte für das Pflege- und Gesundheitspersonal.
Um der Politik zu Diensten zu sein, vernachlässigen die Karlsruher Richter, dass es nach wie vor nur bedingt zugelassene Vakzine gibt, die weder vor Ansteckung noch vor schweren Krankheitsverläufen schützen. Aber auch wenn es bereits einen ordentlich zugelassenen, hochwirksamen Impfstoff gäbe, ist die Argumentation ein schwerer Angriff auf das verfassungsmäßige Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Nun kann es immer neue „schwerer“ wiegende Gründe geben, die körperliche Unversehrtheit des Menschen zu missachten, um „vulnerablen“ Gruppen zu helfen.
Was kommt als Nächstes? Denkbar wäre, dass jeder Bürger ein potenzieller Organspender zu sein hat, ob er will, oder nicht.
Mit dem Verfassungsgerichtsbeschluss wird eine der wichtigsten Lehren aus dem Missbrauch der Medizin im Nationalsozialismus kassiert, dass nie wieder Menschen gegen ihren Willen zu medizinischen Zwecken benutzt werden dürfen.
In der politischen Bildung wird nach wie vor gelehrt, dass sich eine Demokratie durch Gewaltenteilung auszeichnet. Politik und Institutionen werden durch unabhängige Medien und eine unabhängige Justiz kontrolliert und damit in ihrer Macht begrenzt. Das schützt vor Willkür und Missbrauch.
Eine Justiz ist aber nicht unabhängig, wenn die Staatsanwaltschaft politischen Weisungen unterliegt und Richterämter von den Parteien nach Proporz besetzt werden.
Nachdem der Favorit von Ex-Kanzlerin Merkel, Stephan Harbarth, zum obersten Verfassungsrichter ernannt wurde, hat sich diese Institution vor unser aller Augen in ein Regierungsschutzgericht verwandelt, das regierungskritische Klagen entweder gar nicht annimmt, oder eben abschmettert, auch wenn das Grundgesetz dabei beschädigt wird.
Wenn es die demokratischen Kontrollinstitutionen nicht mehr tun, wo bleibt der zuverlässige Schutz vor staatlicher Willkür?
Vera Lengsfeld, geboren 1952 in Thüringen, ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages, zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Sie betreibt einen Blog, den ich sehr empfehle. Der Beitrag erschien zuerst auf Vera Lengsfelds Blog.
Text: Gast