Die „German Angst“ passt den Russen nicht Man muss sich nicht unbedingt fürchten, um diese Krankheit zu besiegen

Von Ekaterina Quehl

Liest man die Überschriften der großen Medien wie „Corona in Russland: Putin verliert die Kontrolle über die Pandemie“, „Russland ächzt unter nächster Corona-Welle“ oder „Russland im Corona-Albtraum: Kreml schickt Millionen in viermonatige Quarantäne und verordnet Zwangsurlaub“, so bekommt man ein sehr düsteres Bild von dem Land.

Glaubt man den Berichten, bekommt man den Eindruck, es herrscht eine Katastrophe und die dummen Russen wollen einfach nicht wahrhaben, dass vom Virus eine Gefahr ausgeht, und feiern ihr Leben trotz der ganzen Toten weiter. Die Regierung ist inzwischen machtlos, weil sie kein Vertrauen beim Volk genießt und sie es – egal mit welchen Einschränkungen – vor sich selbst nicht retten kann. Deshalb greift sie zu radikalen Maßnahmen wie Zwangsimpfung und QR-Code-Regelung im öffentlichen Leben. Das Volk selbst nimmt aber trotz der ganzen Toten den Ernst der Lage nicht wahr. Es glaubt, das Virus sei eine Erfindung der Amerikaner, so zumindest die Pauschal-Aussage eines Russen gegenüber der FAZ. Mit der Impfung solle den Menschen demnach ein Chip eingepflanzt werden.

Es fehlen wohl nur noch freilaufende Bären auf den Straßen, während die Russen in ihrem chronischen Vodka-Delirium unaufhörlich Russisches Roulette spielen. Man bekommt den Eindruck, viele deutsche Medien suchen buchstäblich nach einer Erklärung, wieso ein normales Leben heutzutage überhaupt noch möglich sei. Tenor: Man muss schon etwas an der Birne haben, wenn man heutzutage normal leben möchte. Aber die in Deutschland weit verbreitete Einstellung „Wir müssen unbedingt Angst haben, um diese Krankheit zu besiegen“, funktioniert bei den Russen nicht.

Nun habe ich die letzten zwei Wochen in St. Petersburg verbracht, um mir mein eigenes Bild vor Ort machen zu können. Abgesehen davon, dass hier die meisten großen Medien kaum wagen würden – egal in welchem Kontext – zu schreiben, Putin hätte die Kontrolle über irgendetwas verloren, ist hier absolut nichts (oder nicht mehr als sonst) außer Kontrolle geraten und die Stimmung ist trotz der Ferien – wie Russen den Lockdown selbst nennen – ziemlich entspannt. Ja, die Zahlen der Corona-Erkrankten und Corona-Toten steigen und die Maßnahmen werden verschärft. Aber nein, Russen haben keine Angst, das Leben geht weiter, Menschen lächeln einander an, Kinder spielen glücklich auf den Spielplätzen und nirgendwo sind freilaufende Bären zu sehen.

Ich habe lange überlegt, wie ich die Gründe für diesen fast normalen Alltag beschreiben kann, den ich die ganze Zeit trotz der verschärften Einschränkungen erlebt habe. Es ist nicht einfach, das ist aber keinesfalls mit Dummheit und Alberei zu erklären. Und man muss nicht unbedingt Erklärungen dafür in der Psychologie oder in der Geschichte suchen. Es reicht einfach, etwas genauer auf den Alltag der Russen zu schauen und die Einschränkungen etwas detaillierter zu betrachten.

Nach meiner letzten Reise im September hatte ich sogar den Eindruck, die Menschen sind noch lockerer geworden. Der Sommer ist vorbei, Arbeit und der übliche Alltag sind wieder zurück. Bis zum 30. Oktober habe ich volle Straßen, Einkaufszentren und öffentliche Verkehrsmittel erlebt. Die Stimmung war etwas traurig wegen der bevorstehenden Schließung, dennoch hoffnungsvoll wegen der Wiedereröffnung. „Kaffee – ja, aber ohne Chillen“, sagt mir der Barista in einem Café um die Ecke. „Planschen wieder ab dem Achten. Ihr QR-Code muss aber wasserfest sein“, sagt mir der Mitarbeiter an der Rezeption im Schwimmbad.

Betrachtet man die eingeführten Einschränkungen bzw. deren Kontrolle etwas genauer, versteht man, warum die Menschen hier sehr locker mit den ganzen Schließungen umgehen.

Der sogenannte Zwangsurlaub knüpft an die offiziellen russlandweiten Schulferien an, die regulär bis zum 31. Oktober und in Schulen mit 6-tägigem Wochenunterricht bis zum 4. November dauern, so dass viele Russen in dieser Zeit ohnehin ihre Urlaubsreisen geplant haben. Viele Moskauer wollten ihren Lockdown im lockdownfreien St. Petersburg verbringen. Doch die Petersburger Administration hat selbst einen 8-tägigen Lockdown ab dem 30.10. eingeführt, weil sie die überfüllten Bahn-Züge und Hotels vermeiden wollte.

Die Schulferien wurden verlängert, fast alle Geschäfte geschlossen, Cafés und Restaurants verkaufen nur für Take-away. Museen und Theater hat die Administration aber offengelassen. Doch sie sind verpflichtet, QR-Codes bei den Besuchern zu kontrollieren. Die QR-Code-Regelung gilt für viele Einrichtungen des öffentlichen Lebens auch nach dem 8. November. Aber viele Maßnahmen werden teils in der Praxis nicht so umgesetzt, wie es auf dem Papier steht, und teils schlicht nicht eingehalten. Die QR-Codes werden häufig nur gesichtet und nicht geprüft. Das Meme, das aktuell in russischen sozialen Netzwerken viral geht, sagt vieles zum Umgang der Russen mit der QR-Regelung aus:

„Beim Eingang ins Einkaufszentrum habe ich meinen QR-Code gezeigt. Nach der Scannung hat man mir gesagt, ich sei ein Hähnchen für 271,90 Rubel pro Kilo und ich musste gehen.“

Ab sofort dürfen aber die St. Petersburger Genesenen ganz offiziell einen QR-Code erhalten, die keinen Attest oder sonstige ärztliche Bestätigung haben, also die ihre Covid-Erkrankung nirgendwo offiziell gemeldet haben. Für einen QR-Code reicht einfach ein positiver PCR-Test, wobei es noch nicht genauer definiert wurde, wie alt dieser Test sein soll.

Die Ausgangssperre für ältere Menschen wurde – genauso wie letztes Jahr in St. Petersburg und anderen Regionen – durch die Sperre kostenloser Monatsmarken für die öffentlichen Verkehrsmittel umgesetzt. Viele Rentner fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln aber auf eigene Kosten bzw. werden von ihren Kindern mit dem Auto gefahren. Es gibt keine Kontrollmechanismen für die Einhaltung dieser Regelung und ältere Menschen bekommen auch keine Strafe und werden sonst nicht gerügt, wenn sie unterwegs sind. Deshalb bewegen sie sich in der Regel ganz frei und man sieht auch sehr viele in der Stadt.

Im Alltag bekommt man den Eindruck, dass Russen einander das Leben mit der Kontrolle der Maßnahmen nicht erschweren wollen. Alle sind freundlich und locker. Abstandsregelung werden hier niemals eingehalten und Masken tragen ohnehin immer weniger Menschen und noch weniger tragen sie richtig. Kontrolliert wird es kaum. Überall, wo es Menschenansammlungen geben kann, sei es in Parks, Schlangen vor Cafés, offenen Lebensmittelgeschäften, U-Bahn, Flughäfen, gibt es diese. Der erste Tag des Lockdowns war sehr sonnig und viele Menschen haben ihn in Parks verbracht, mit Musik und Take-away-Essen.

„Die Strenge der Gesetze wird durch deren Nicht-Einhaltung kompensiert“ – das berühmte Zitat des großen russischen Schriftstellers Saltykow-Schtschedrin hat hier seine volle Geltung. Wie es sich weiterentwickelt ist noch abzusehen. Grundsätzlich geht aber das eigentliche Leben und Verdienst des Lebensunterhalts vor gesundheitlichen Maßnahmen. Tägliche Sorge um Familienangehörige und sich selbst haben Priorität.

Diese Einstellung ist selbst bei vielen Menschen geblieben, die schwer an Corona erkrankt waren oder Familien-Angehörige infolge der Erkrankung verloren haben. Es gibt viel Wichtigeres zu tun, als Aufrechterhaltung der Angst, Denunziation der Maßnahmen-Kritiker oder gesellschaftliche Spaltung. Und um das Leben nach Möglichkeit weiterzuführen, sollte man es zumindest wollen und versuchen, diesen Wunsch zu realisieren. Und nicht irgendwann, wenn Corona vorbei ist, sondern jetzt.

 

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Namentlich gekennzeichnete Beiträge von anderen Autoren geben immer deren Meinung wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de und studiert nebenberuflich Design und Journalismus.

Bild: privat
Text: eq

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