Die Hamburger Kunsthalle auf woken Abwegen! Besucher behandelt wie Kleinkinder

Ein Gastbeitrag von Vera Lengsfeld

Anlässlich eines Besuchs in Hamburg wurde ich auf die neu gestaltete Impressionismus-Sammlung der hiesigen Kunsthalle aufmerksam. Deutsch-Französische Begegnungen in Plastik, Malerei und Pastell sollen zeigen, wie diese prägende Kunstströmung von Frankreich ausgehend Ende des 19. Jahrhunderts sich rasch in die Nachbarländer ausbreitete, speziell auch nach Deutschland, wo der impressionistische Einfluss bis Anfang des 20. Jahrhunderts sichtbar wird. Die umfangreiche impressionistische Sammlung der Kunsthalle wird jetzt nicht mehr getrennt nach Ländern gezeigt, sondern in thematischen Gruppen. Das wollte ich unbedingt sehen. Und ein Besuch lohnt sich!

Um zu den Impressionisten zu gelangen, muss man aber durch den Großen Saal mit den Historienbildern hindurch. Dort fiel mir eine weitere Neuerung auf, aber eine ganz und gar misslungene.

Leider hat sich auch die Hamburger Kunsthalle dem verheerenden Trend zum betreuten Denken angeschlossen. Unter etwa einem Drittel der Gemälde ist ein Schild mit roter Schrift in Deutsch und Englisch angebracht, das die Gedanken der Betrachter in die „richtige“ Richtung lenken soll. Das passiert auf einem erschreckend niedrigem Niveau, als wären die Besucher Kleinkinder, die behutsam durch eine gefährliche Welt manövriert werden müssen, damit ihre unbedarften Seelen keinen Schaden nehmen.

„Finden Sie das Gemälde provokativ? Finden Sie es sexistisch?“ steht unter einem Bild, auf dem unbekleidete Frauen zu sehen sind. „Ist das authentisch, oder inszeniert?“ steht unter einem Schlachtgemälde. Unter Hans Makarts „Einzug Karls V. in Antwerpen“ will die woke Denkbetreuerin wissen: “Wie zeigt sich hier für Sie Macht?“ Unter einer Alltagsszene steht: „War früher alles besser?“ Unter einer anderen: „Ist das Liebe zum Detail oder Filmkulisse?“

Ganz krude wird es unter Gabriel von Marx` Kindesmörderin: „Was, wenn der erste Eindruck täuscht?“ Unter Carl-Wilhelm Hübners „Trauernder Witwe“ will die Denkbetreuerin wissen, ob uns das heute noch berührt. Unter Dante Gabriel Rosettis „Helena von Troja“ steht: „Weibliche Macht-männliche Macht?“ Unter Anselm Feuerbachs „Urteil des Paris“ wird gefragt: „Wer ist die Schönste und wer soll das beurteilen?“

Nun, die Antwort ist seit Jahrtausenden bekannt: Es urteilt Paris und die Schönste ist Aphrodite, die ihm die schönste Frau der Welt versprach, wenn er sie wählte. Bekanntlich bekam Paris Helena und das löste den trojanischen Krieg aus. All das war in meiner Kindheit noch Allgemeinwissen, gespeist aus Schulstoff und griechischen Sagen, die ich nachmittags verschlang.

Was soll wem hier eingetrichtert werden? Dass die Wahl nie stattgefunden hat oder nicht hätte stattfinden dürfen? Dass Schönheit nicht im Auge des Betrachters liegt, sondern etwas ist, das dem woken Diktat unterliegt?

Unter Jean-Léon Gérômes „Phryne vor den Richtern“ will man wissen: „Ist das Bewunderung, Voyeurismus oder Sexismus?“ Und wenn irgendwer zu dem Schluss kommt, es sei Sexismus, kann das dann weg?

Und was ist mit den Porträts von Peter dem Großen und Napoleon, die auch nicht mehr unhinterfragt hängen dürfen?

Was ist der Sinn dieser Aktion? Ist sie ein Zugeständnis an den woken Minderheitszeitgeist, der penetrant von den Medien in die Öffentlichkeit gepumpt wird und dem man sich vorauseilend unterwirft, um seine Ruhe zu haben? Glücklicherweise bleibt man im großen Rest des Hauses von diesen blöden Fragen verschont. Man kann ungestört in den Dialog mit den Kunstwerken treten, sie genießen, sich von ihnen überraschen und erfreuen lassen.

Ich habe eine Weile die Besucher beobachtet, wie sie auf die roten Fragen reagieren. Gar nicht. Nicht einer warf einen Blick darauf. Als ich vor Napoleons Bildnis stand und mir Gedanken machen sollte, welche Macht hier abgebildet wird, kamen zwei Mädchen schnellen Schrittes auf das Gemälde zu. „Ich wusste es doch, das ist Napoleon“, sagte eine der beiden stolz, musterte den Imperator kurz und schlenderte mit ihrer Freundin weiter. Die rote Frage schienen sie nicht einmal bemerkt zu haben. Gut so, aber wann wird der Versuch, unser Denken zu lenken, endlich wieder aufgegeben und die Kant’sche Maxime, dass man sich des eigenen Verstandes bedienen, also selbst denken soll, wieder zum Maßstab?

Was mich sehr gefreut hat, waren die vielen jungen Menschen in der Kunsthalle. Besonders fiel mir das im Raum, wo Caspar David Friedrichs Gemälde hängen, auf. Die Kunsthalle verfügt über eine beträchtliche Sammlung von Friedrich-Gemälden. Alfred Lichtwark, ihr erster Direktor, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Kunst Friedrichs wiederentdeckt wurde, indem er eine Vielzahl seiner Gemälde für die Sammlung sicherte.

Als ich den Raum betrat, saßen zwei junge Männer tief versunken vor der Ansicht der nächtlichen See. Kurz darauf füllte sich der Saal mit jungen Mädchen, die alle länger vor den Bildern verweilten. Sie wurden von der Kunst in den Bann gezogen, ganz ohne woke Geleitworte. So soll es sein und bleiben. Betreutes Denken, wenn es denn ernst genommen würde, versperrt den authentischen Zugang zur Kunst und beraubt die Adressaten des betreuten Denkens des Genusses und der Bildung, die Kunstwerke vermitteln.

Die Hamburger Kunsthalle sollte ihren woken Abweg schnellstens wieder verlassen.

David
Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Vera Lengsfeld, geboren 1952 in Thüringen, ist eine Politikerin und Publizistin. Sie war Bürgerrechtlerin und Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Von 1990 bis 2005 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages, zunächst bis 1996 für Bündnis 90/Die Grünen, ab 1996 für die CDU. Seitdem betätigt sie sich als freischaffende Autorin. 2008 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Sie betreibt einen Blog, den ich sehr empfehle. Der Beitrag erschien zuerst auf Vera Lengsfelds Blog.

Bild: Shutterstock
Text: Gast

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