Ein Gastbeitrag von Dr. Manfred Schwarz
Impfpolitik der EU: Ein einzigartiges Fiasko
Die Impf-Strategie der Europäischen Union gegen Corona führt in eine Katastrophe. Das deutsche Debakel verwirrt die Bevölkerung hierzulande. Verantwortlich für das Desaster sind vor allem das Berliner Kanzleramt und die Brüsseler EU-Kommission.
In diesem Artikel geht es nicht darum, die Vor- und Nachteile des Impfens gegen Corona aufzulisten. Vielmehr wird das groteske Versagen der Berliner und Brüsseler Bürokraten beleuchtet, denen es nicht einmal gelingen will, die Ziele zu erreichen, die sich die EU-Kommission und die Bundesregierung selbst gesteckt haben.
Der mediale Mainstream bringt dazu bisher wenig oder gar keine Meldungen. Vor allem die „Bild-Zeitung“ ist wiederum die Ausnahme von der Regel. Aber auch die Magazine „Spiegel“ und „Focus“ sowie die „Welt“ veröffentlichen mittlerweile – wenn auch meist noch eher verhalten – Artikel, die das Verderben der EU-Impfpolitik deutlich machen.
Das kleine Israel zeigt, wie es geht
Israel und die hierzulande von der Linken immer wieder geschmähten Staaten Großbritannien und die USA werden wohl bis zum Frühjahr schon einen Großteil der Bevölkerung gegen das Virus geimpft haben. Im Gegensatz dazu finden Impfungen in der Bundesrepublik derzeit nur im Schneckentempo statt.
Beim Impfen ist Israel weltweit Vorreiter. Fünf Prozent der dortigen Bevölkerung (neun Millionen) waren dort laut „Tagesspiegel“ schon Ende Dezember geimpft, als in Deutschland gerade mal 0,05 Prozent Geimpfte gezählt wurden.
Dabei hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Beschaffung des Impfstoffs im Frühjahr noch großspurig zur Chefsache erklärt. Gemeinsam mit seinen Ressortkollegen aus Frankreich, Italien und den Niederlanden wollte Spahn eine offensive Impfstoff-Allianz schmieden.
Am 13. Juni hatte der schwedisch-britische Impfstoff-Hersteller AstraZeneca einen Deal mit den vier Staaten gemacht: 400 Millionen Impfeinheiten wollte das Unternehmen alsbald liefern, tönte der Konzern-Chef Pascal Soriot. Genaue Liefertermine nannte er freilich nicht.
Doch das große Projekt wurde schnell auf Eis gelegt. Dafür sorgte Kanzlerin Merkel. Die Impfstoff-Katastrophe nahm damit ihren Lauf.
Denn im Kanzleramt liefen zu diesem Zeitpunkt schon Planungen auf vollen Touren, Spahn und seinen drei Minister-Kollegen die Befugnisse für weitere Verhandlungen zu entziehen.
Kanzlerin lässt Spahn zu Kreuze kriechen
Nach „Bild“-Informationen ging es Merkel bei ihrer Intervention auch um ganz persönliche Interessen: Damit sollte ein öffentlichkeitswirksames Signal für ihre EU-Ratspräsidentschaft gesetzt werden, die am 1. Juli begann. Für Deutschland sollte es demonstrativ „keine nationalen Alleingänge“ geben. Merkel wollte als rundum überzeugte „Europäerin“ glänzen.
Es ging der CDU-Kanzlerin darum, weitere Kritik anderer EU-Länder im Keim zu ersticken, die im Frühjahr das deutsche Ausfuhrverbot von Atemschutzmasken kritisiert hatten.
Recherchen der „Bild-Zeitung“ zufolge mussten Spahn und seine drei Kollegen einen Brief an die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schreiben. In diesem Schreiben gelobten die vier Minister – in einem „unterwürfigen Ton“ (Bild) – auf Einkaufstouren ohne die EU ab sofort zu verzichten. Wörtlich schrieben die Minister untertänig: „Leider haben die zeitgleichen Verhandlungen unserer Allianz mit der Firma Sorgen verursacht.“ Ein Kniefall sondergleichen.
Merkel übertrug der EU-Kommission über Nacht die alleinige Verantwortung für den Einkauf der Corona-Impfmitteln. Damit waren Deutschland und Jens Spahn außen vor.
Spahn, der sich seit längerer Zeit offiziell auffällig oft bemüht, der Kanzlerin mit großer Loyalität zur Seite zu stehen, soll sich nach der Intervention des Kanzleramts gegenüber seinen Mitarbeitern verärgert gezeigt haben. Auf der Führungsetage seines Ministeriums hat der Minister angeblich vor massiven Verzögerungen bei der Impfstoff-Belieferung für den Fall gewarnt, dass die EU gleich für 27 Staaten ordern wolle.
Doch öffentlich übte Spahn keinerlei Kritik. Er kuschte. Wieder einmal.
USA und GB: Erfolgreiche Strategie
Die USA und Großbritannien schlossen schon im Juli und August Vorabverträge gleich mit je sechs Herstellern – insgesamt wurden über 840 Millionen beziehungsweise 340 Millionen Impfdosen verbindlich geordert.
Im Gegensatz dazu kam Brüssel nicht vom Fleck. Erst am 27. August vermeldete EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides einen vermeintlichen Erfolg: Die zypriotische Politikerin berichtete, der Vertrag mit dem britisch-schwedischen Konzern AstraZeneca über 300 Millionen Dosen sei jetzt unter Dach und Fach. Es werde geliefert, „sobald“ der Impfstoff „verfügbar ist“ (EU-Pressestelle). Genaue Zeitangaben? Fehlanzeige.
EU-Geld für Einkäufe bei dem überaus leistungsstarken deutschen Unternehmen Biontech (Mainz) war dagegen plötzlich kaum noch vorhanden. Ende August erklärte Kommissarin Kyriakides, der von der EU bereitgestellte Topf – 2,7 Milliarden Euro – sei jetzt leer.
Zypriotische EU-Kommissarin: Rundum überfordert
Deswegen bemühte sich die griechische Zypriotin ganze vier Wochen – ohne Erfolg –, Biontechs Preisangebot (50 Dollar pro Dosis) zu drücken. Das deutsche Unternehmen, das mit dem US-amerikanischen Konzern Pfizer kooperiert, ließ sich durch Brüssel nicht beeindrucken. Ein Vertrag kam zunächst nicht zustande.
Am 18. September unterschrieb die EU-Kommission deshalb erst mal einen anderen Kaufvertrag – nun mit der französischen Pharma-Gruppe Sanofi, die bis zu 300 Millionen Impfmittel liefern soll. Dieser Vertrag ist vor allem auf Druck der französischen Zentral-Regierung in Paris zustande gekommen. Motto: Frankreich first.
Anscheinend ist der Impfstoff aus Frankreich aber erst im Verlauf des Jahres 2021 produktionsreif. Wenn überhaupt. Genaue Daten? Gibt es nicht.
Einen weiteren Vertrag schloss die Kommission der EU dann am 8. Oktober, dieses Mal mit dem US-amerikanischen Unternehmen Johnson & Johnson. Präzise Einzelheiten dazu wurden wieder nicht bekannt.
Kritiker werden als „Impf-Nationalisten“ verunglimpft
Erst mit großer Verspätung – am 11. November – gelang es der Brüsseler Kommission, mit Biontech doch noch teilweise handelseinig zu werden. 100 Millionen Dosen sollen mittelfristig und langfristig an die EU ausgeliefert werden, 19 Prozent davon an Deutschland.
Einer Meldung von „Radio Berlin-Brandenburg“ („RBB“) zufolge sind aber bis Anfang Januar nur 1,3 Millionen Impfdosen von Biontech bei deutschen Behörden angekommen. Bis Anfang Februar sollen erst ganze 2,68 Millionen Einheiten geliefert werden. Sogar Biontech-Chef Ugur Sahin kritisierte im „Spiegel“, ihn habe die zögerliche Bestellung der EU sehr verwundert.
Unterdessen wies Regierungssprecher Steffen Seibert jüngst die Kritik am deutschen Vorgehen zurück: Die Regierung habe einen „Impf-Nationalismus“ verhindern wollen.
Das war selbst dem CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt zu viel. Er konterte: „Es geht doch nicht um Impf-Nationalismus.“ Eine faire Impfstoffverteilung heiße nicht, „dass man seine eigenen Interessen hinten anstellt“.
Kritik kommt indessen auch schon vom Koalitionspartner SPD. Die Partei wittert Morgenluft – für die Bundestagwahl im September. Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) überreichte – im Auftrag auch der SPD-regierten Bundesländer – seinem Kabinettskollegen Spahn einen vier Seiten langen Frage-Katalog zu dessen Corona-Politik. Die „Bild-Zeitung“ spricht heute von einem „Frontalangriff“.
Und der Erste Bürgermeister von Hamburg, Peter Tschentscher (SPD) beklagte – für seine Verhältnisse ziemlich energisch –, der Bund habe „insgesamt deutlich zu wenig Biontech-Impfstoff bestellt“.
Ebenfalls im Europaparlament wächst die Unzufriedenheit. Nun hat sich dort die FDP zu Wort gemeldet. „Die EU-Kommission hält bisher alle Details über die Verhandlungen mit den Impfstoffherstellern geheim“, sagte die freidemokratische Abgeordnete Nicola Beer dem „Spiegel“. Beer ist auch Vizepräsidentin des EU-Parlaments. „Wenn die Kommission nicht sehr schnell – etwa in einer Sondersitzung des Gesundheitsausschusses – Transparenz herstellt, muss das Europaparlament einen Untersuchungsausschuss einrichten.“
Die schwer verunglückte Impfpolitik von EU und Bundesregierung wird noch für viele Schlagzeilen sorgen.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Dr. Manfred Schwarz (Politologe): Zivillehrer an der Hamburger Landespolizeischule, dann etliche Jahre Berufsschullehrer und Dozent in der staatlichen Lehrerfortbildung (Bereich: Politik); jeweils acht Jahre Medienreferent in der Hamburger Senatsverwaltung und (nebenamtlich) Vizepräsident des nationalen Radsportverbandes BDR (verantwortlich für die bundesweite Medienarbeit / Herausgeber einer Internet-Radsportzeitung). CDU-Mitglied, sechs Jahre Mitglied des Hamburger CDU-Landesvorstands. Heute Autor für verschiedene Internetportale mit den Schwerpunkt-Themen Politik und Medien.
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Text: Gast